Rezension: Robert Seethaler, Der Trafikant

Vordergründig erzählt Robert Seethaler in „Der Trafikant“ die Geschichte der Freundschaft zwischen dem 17jährigen Franz Huchel und dem mehr als 60 Jahre älteren „Deppendoktor“ Sigmund Freud. Doch es geht um mehr: Der Wiener Autor schildert das Wien der 1930er Jahre und den erschreckenden gesellschaftlichen Wandel nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten.

Quelle: https://keinundaber.ch
Quelle: https://keinundaber.ch

Die Handlung
Als während eines Gewitters der Großgrundbesitzer Alois Preininger vom Blitz erschlagen wird, ändert sich das Leben des 17jährigen Franz Huchel radikal: Preininger war der Liebhaber seiner Mutter und unterstützte diese finanziell, nachdem der Vater ihres Sohnes bereits kurz vor der Geburt gestorben war. Deshalb schickt die Mutter ihren Sohn nach Wien zur Ausbildung beim Trafikanten Otto Trsnjek, weil dieser ihr noch einen Gefallen schuldet.

Otto Trsnjek, ein Kriegsversehrter, nimmt den Jungen bei sich auf und weist ihn in die Aufgaben eines Trafikanten ein. Vor allem legt er Franz nahe, sorgfältig die Zeitungen zu lesen, weil er über ihren Inhalt ebenso gut Bescheid wissen müsse wie über die Tabakwaren.

Eines Tages kauft Sigmund Freud eine Zeitung und Zigarren, vergisst jedoch seinen Hut. Franz läuft ihm deshalb nach, die beiden kommen ins Gespräch und im weiteren Verlauf entwickelt sich eine Art Freundschaft zwischen den beiden Männern. Das Leben aller Beteiligten nimmt schließlich eine tragische Wende, als die Nationalsozialisten die Macht über Österreich übernehmen: Otto wird von der Gestapo abgeholt, Freud muss nach London emigrieren und Franz die Geschäftsführung der Trafik übernehmen.

Eine wahre Geschichte?
Robert Seethaler erzählt seine Geschichte unaufgeregt und schnörkellos. Gerade deshalb gelingt es ihm meisterhaft, den Leser in das Wien der 1930er Jahre und in die handelnden Charaktere zu versetzen. Der Leser staunt mit dem einfachen Burschen aus dem Salzkammergut, als er die Wunder der Großstadt kennenlernt und sich im Prater in eine Böhmin verliebt, die ihn jedoch nur ausnutzt. Und schließlich bekommt der Leser auch einen Eindruck davon, wie es gelungen sein könnte, dass ein totalitäres System Besitz von den Menschen und all ihren Lebensbereichen nimmt.

Robert Seethaler pflegt schwarzen Humor, wie er für viele Wiener Erzähler charakteristisch ist, und gibt seinem Werk gerade dadurch mehr Tiefe. Er erzählt eine Geschichte aus einem der düstersten Kapitel der deutschen und österreichischen Historie, die sich genauso zugetragen haben könnte. Gerade das macht den Text auch für die jüngere Generation von Lesern interessant, welche diese Epoche nur noch aus Geschichtsbüchern kennt.

Mein Fazit
Die Charakteristik „typisch wienerisch“ trifft für die Tragikomödie mit manchmal märchenhaften, oft bitterbösen Passagen, voll und ganz zu. Seethaler gelingt das Kunststück, eine Geschichte vor realem, tragischem Hintergrund charmant zu erzählen, indem er die Absurdität des Geschehens anhand einzelner Szenen vor Augen führt. Angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen in Europa wirkt „Der Trafikant“ zugleich erschreckend aktuell.

Robert Seethaler, Der Trafikant
Kein und Aber Verlag, Zürich 2012
Robert Seethaler liest: https://keinundaber.ch/de/autoren-regal/robert-seethaler/
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Trafikant-9783036956459
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Stephanie Lam, Das Haus der Lügen

Jeder Mensch hat seine kleinen oder größeren Geheimnisse, und jeder lügt ab und zu aus verschiedenen Gründen. Manche, um andere nicht zu verletzen, manche aus Scham oder Angst, wieder andere aus Berechnung, Zorn oder Rachedurst. In Stephanie Lams „Haus der Lügen“ besteht das ganze Leben aus Lügen – und dem, was passiert, wenn man sich zu tief darin verstrickt hat, um die Wahrheit noch sehen zu können.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Ein Haus und seine Geheimnisse
1965 zieht die 18-jährige Rosie Churchill in Castaway House ein. Die einst herrschaftliche Villa thront auf den Klippen über einem englischen Küstenstädtchen. Unter einem Fensterbrett entdeckt sie die Inschrift „Robert Carver ist unschuldig“ und damit ein kleines Stück des dunkelsten Geheimnisses der alten Villa aus dem Sommer 1924, als der 19-jährige Robert Carver auf Einladung seines Cousins Alec eine vermeintlich unbeschwerte Zeit an der See zu Erholung seiner Lungen verbringen will. Doch bald schon wird auch Robert hineingezogen in das Gewirr aus Lug und Betrug, das Alec und seine Frau Clara rund um sich gesponnen haben. Robert, der das Spiel nicht durchschaut, wird selber zum Lügner.

1965 taucht ein Landstreicher an der Tür der Villa auf, der behauptet, er müsse etwas Wichtiges wegen des Hauses klären, wisse aber nicht mehr was, da er vor Jahren das Gedächtnis verloren habe. Rosie, die selbst ein Geheimnis mit sich herumträgt und deswegen zur Lügnerin geworden ist, hat Mitleid mit dem alten Mann und beginnt, sich um ihn zu kümmern. Und plötzlich kreuzen sich die Lebensgeschichte von Robert und Rosie trotz der mehr als 40 Jahre zwischen ihrer Anwesenheit in Castaway House.

Langsam, dicht und detailreich
Stephanie Lam erzählt die Geschichten von Castaway House und seiner Bewohner zwischen 1924 und 1965 langsam, präzise und spannend. Als Leser habe ich eine Ahnung von dem, was passiert, und werde dennoch überrascht. Mit vielen Details erwacht die Welt der Protagonisten zum Leben und es wächst das Verständnis dafür, warum jeder sich in seinen Lügen sicherer fühlt als mit der Wahrheit. Trotz der langsamen Erzählweise und der beiden Handlungsstränge, die sich mehr und mehr ineinander verweben, ist „Das Haus der Lügen“ niemals langatmig oder verwirrend. Und gelegentlich ertappe ich mich dabei, den handelnden Personen den Rat geben zu wollen, es einmal mit der Wahrheit zu versuchen, anstatt auf Lügen zu beharren, die sich längst schon verselbstständigt haben.

Fazit
„Das Haus der Lügen“ ist Erzählung und Krimi in bestem britischen Stil. Ein Buch, das den Leser dazu verführt, immer „nur noch eine Seite“ lesen zu wollen, weil es von Anfang an in den Bann der Geschichten zieht. Je weiter die Entwicklungen fortschreiten, desto klarer werden die Entscheidungen und Lügen, und desto mehr wächst das Verständnis für jeden einzelnen Protagonisten wie auch die Erkenntnis, dass auch im eigenen Leben das eine oder andere Geheimnis schlummert. Die Wahrheit ist zwar nicht immer schön, aber das einzige Mittel, mit sich selbst in Frieden und ohne Schuld zu leben. Eine wirklich faszinierende Geschichte mit unbedingter Leseempfehlung.

Stephanie Lam, Das Haus der Lügen
Goldmann Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Haus-der-Luegen-9783442204458
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Ivana Jeissing, Wintersonnen

Ivana Jeissing widmet sich in „Wintersonnen“ der Frage, wie man sich selbst finden kann, wenn ein wichtiger Teil der eigenen Herkunft fehlt. Ein klassisches Thema der Literatur in immer neuen Facetten, aber nicht immer ein Lesegewinn.

Quelle: www.metrolit.de
Quelle: www.metrolit.de

Mütter und Töchter
Gustava ist 34, als ihre Mutter nach einer langen Demenzerkrankung stirbt. Um die Mutter zu pflegen, hatte Gustava sich eine Auszeit von ihrer vielversprechenden Karriere am Wiener Burgtheater genommen und damit ihre Karriere der Mutter geopfert. Gustava wuchs auf, ohne jemals etwas über ihren Vater zu wissen. Die Mutter schwieg anfangs eisern und war dann später nicht mehr in der Lage, Antworten zu geben. Nach ihrem Tod gibt Gustava die Wohnung und das von ihr als hoffnungslos empfundene Leben in Wien auf und zieht nach Berlin, auf der Suche nach sich selbst und nach ihrem Vater. In Berlin startet sie einen Neuanfang mit Hilfe des Psychologen Donald, des Gärtners Nello und der Erkenntnis, dass allein sie für ihr Leben verantwortlich ist.

Unbeschwerter Erzählstil
Ivana Jeissing erzählt in „Wintersonnen“ die Geschichte von Gustava aus der Ich-Perspektive, und das lobenswert ohne jedes weinerliche Selbstmitleid, das sonst gerne gescheiterten Künstlerfiguren angedichtet wird. Vielmehr werden mit einer gehörigen Portion Selbstironie, Witz und Leichtigkeit alle Figuren und ihre Probleme zu Puzzleteilchen in Gustavas Reise zum Ich. Der lockere Erzählstil der Autorin ermöglicht eine heitere, entspannte Sicht auf das Leben, die auch im Scheitern immer noch komische Aspekte liefert. Die Sprache lässt dem Leser keinen Platz für Schwermut oder Zweifel, sondern verleitet dazu, das Leben von der positiven Seite zu sehen.

Fazit
Licht und Schatten: Ivana Jeissing ist mit „Wintersonnen“ eine locker-leichte Erzählung über das Leben, seine Krisen und seine Auswege gelungen. Zugegeben: Auch wenn man sich nicht unbedingt mit den Figuren identifizieren kann, die Schauplätze teilweise austauschbar wirken und der Schluss ein wenig zu aufgesetzt ist, sind die „Wintersonnen“ dennoch eine entspannte Lektüre für zwischendurch. Wer auf der Suche nach Unterhaltungsliteratur für lange Reisen oder Wartezeiten ist, dem kann „Wintersonnen“ nur empfohlen werden. „A good read“, wie eine andere Rezensentin urteilte. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Ivana Jeissing, Wintersonnen
Metrolit, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Wintersonnen-9783849303716
Autoren der Rezension: Harry Pfliegl / Detlef M. Plaisier

Rezensionsreihe Indonesien zur Frankfurter Buchmesse 2015, Teil 3: Ratih Kumala, Das Zigarettenmädchen

Dass kein episches Werk vonnöten ist, um die Geschichte zweier Familien zu erzählen, die schicksalhaft miteinander verwoben zu sein scheinen, beweist Ratih Kumala mit ihrem fünften Roman „Das Zigarettenmädchen“. Geschickt lässt die Autorin zudem die wechselhafte Geschichte Indonesiens während des 20. Jahrhunderts sowie Mythen und Einblicke in die Herstellung der für Indonesien typischen Nelkenzigaretten in das Werk einfließen. Ratih Kumala spart auch die blutigen Episoden während der japanischen Besatzung und nach Suhartos Machtergreifung nicht aus. Diese „Säuberungen“ hatten in den 1960er Jahren etwa eine Million Indonesier das Leben gekostet.

Quelle: www.culturbooks.de
Quelle: www.culturbooks.de

Auf der Suche nach der Geliebten
Der Zigarettenmagnat Pak Raja liegt im Sterben und flüstert immer wieder den Namen Jeng Yah. Hinter dem Rücken seiner eifersüchtigen Frau bittet er die Söhne, nach „seinem Zigarettenmädchen“ zu suchen. Denn Jeng Yah war seine Verlobte, die er verlassen musste, nachdem sich General Suharto an die Macht geputscht hatte. Pak Raja, ursprünglich ein mittelloser Wanderarbeiter, hatte vor der Hochzeit mit der hübschen Tochter eines Zigarettenfabrikanten ein eigenes Geschäft eröffnen wollen, weil er nicht auf das Geld seines Schwiegervaters angewiesen sein wollte. Deshalb plante er, mit Geld von der kommunistischen Partei eine eigene Marke etablieren – und stand genau deshalb nach dem Machtwechsel auf der Todesliste der neuen Herrscher. Während ihm die Flucht gelingt, geraten seine Verlobte und deren Vater in Gefangenschaft und erlangen ihre Freiheit nur durch sehr glückliche Umstände.

Pak Raja findet in einer Stadt Unterschlupf, ausgerechnet beim ärgsten Konkurrenten seines Schwiegervaters, dessen älteste Tochter sich in ihn verliebt. Was Pak Raja zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Sein tatsächlicher und sein Beinahe-Schwiegervater waren schon seit ihrer Jugend erbitterte Konkurrenten, was sich im Lauf der Jahre zu einer regelrechten Feindschaft steigerte. Pak Rajas Söhne erfahren während ihrer Suche die Geschichte ihrer Familien und decken ein Verbrechen ihres Vaters an der Verlobten auf, das dieser fast mit ins Grab genommen hätte.

Eine Saga mit leisen Melodien
Einfühlsam versetzt sich Ratih Kumala in ihre Protagonisten hinein und lässt sie dadurch im Kopf des Lesers umso lebendiger werden. Die Autorin schildert aus der Perspektive des neutralen Beobachters den Alltag der Menschen, erzählt von deren Wünschen und Träumen vor dem Hintergrund massiver historischer Umwälzungen. Dadurch verwebt sie geschickt die Geschichte zweier Familien über drei Generationen hinweg und reichert ihre Saga mit zahlreichen hintergründigen Details an. Dazu gehört etwa die Legende der wunderschönen Roro Mendu, die für ihren süßen Speichel berühmt war. Eher nebenbei, dafür aber umso eindrücklicher, fließen die blutigen Gräueltaten der Machthaber mit ein. Etwa indem Ratih Kumala beschreibt, wie die Menschen täglich zum Fluss gehen, um zu sehen, ob unter den dahin treibenden Leichen möglicherweise ein verschwundener Bekannter oder Verwandter sein könnte.

Fazit
Ratih Kumala gelingt durch ihre einfühlsame Erzählweise ein Kunststück, das nur wenige Autoren schaffen: Sie erzeugt Bilder im Kopf des Lesers. Wohltuend ist die neutrale Position der Autorin, die nur schildert und nicht wertet. Das gilt sowohl für die Charaktere ihrer Geschichte als auch für die umwälzenden Ereignisse inklusive blutiger Gräueltaten der jeweiligen Machthaber. Ratih Kumalas fesselnde Erzählweise ist beileibe keine leichte Kost, aber leichter zu verdauen als im Vergleich Laksmi Pamuntjaks Abrechnung mit der indonesischen Geschichte in „Alle Farben rot“.

Ratih Kumala, Das Zigarettenmädchen
CulturBooks Verlag Hamburg, 2015
Die Autorin im Gespräch: http://www.culturbooks.de/ratih-kumala-im-gespraech/
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Zigarettenmaedchen-9783959880046
Autoren der Rezension: Harry Pfliegl / Detlef M. Plaisier

Rezension: Andrei Mihailescu, Guter Mann im Mittelfeld

Sowjetunion, Vietnam, Nord-Korea, Kuba – über Diktaturen gibt es viele Geschichten und Gerüchte von Hunger, Elend, Terror und Unterdrückung. Nicht so zu Rumänien am Ende der Donau, immerhin Teil der EU. Andrei Mihailescu nimmt den Leser in seinem Buch „Guter Mann im Mittelfeld“ mit zu einem Leben unter einem Regime, das den großen Diktatoren in nichts nachsteht.

Quelle: www.hanser-literaturverlage.de
Quelle: www.hanser-literaturverlage.de

Leben zwischen Angst, Resignation und Hoffnung
Bukarest, 1980. Stefan Irimescu ist Journalist bei einer der größten rumänischen Tageszeitungen. Zwar weiß er, dass er Teil einer gewaltigen Propaganda-Maschinerie ist, doch er redet sich ein, dass er mit seinen an der Zensur vorbei gemogelten Spitzfindigkeiten in den Artikeln und durch das Abfangen von unvorsichtigen Leserbriefen nicht wirklich davon betroffen ist. Als er sich offen mit dem Securitate-Beamten in der Zeitung anlegt, wird er verhaftet und verhört – und Tage später zerlumpt und verletzt auf einer Baustelle wieder freigelassen. Dort trifft er auf Raluca, Architektin und Ehefrau des mächtigen Parteikaders Ilie Stancu. Raluca und Stefan beginnen eine Affäre, die nicht lange geheim bleibt. Als Ralucas Ehemann davon erfährt, lässt er sich von einem Parteifreund bei der Securitate helfen, um Stefan erneut verhaften und im Gefängnis verschwinden zu lassen. Doch statt ihn zu brechen, lässt die Zeit im Gefängnis Stefan über elegantere Wege des Widerstandes nachdenken und seine Liebe zu Raluca noch wachsen.

Von den Problemen und Siegen des Alltags
Die unter Ceauşescu in Rumänien errichtete sozialistisch-stalinistische Diktatur brachte der rumänischen Bevölkerung anfangs, angefacht durch den allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung der späten 1960er Jahre, den erhofften Wohlstand. Doch das schlug schnell um: zum Zeitpunkt der Geschichte von Andrei Mihailescu, zwischen 1980 und 1982, herrschte allgemeiner Mangel. Anstehen für Brot, Milch oder Ersatzkaffee gehörte zum Alltag. Eier, Zucker oder Fleisch waren kaum oder nur durch Beziehungen zu Parteikadern zu bekommen. Unter dem Terror-Regime des Geheimdienstes Securitate wagte niemand offen aufzubegehren aus Angst, zu Tode gefoltert zu werden oder elend in einem Gefängnis dahin zu vegetieren. „Guter Mann im Mittelfeld“ bringt die Situation der Menschen ohne unnötige Sentimentalitäten und gerade damit umso erschreckender zum Leser.

Mein Fazit
„Guter Mann im Mittelfeld“ ist ein Buch, das gerade wegen seiner authentischen, unprätentiösen Schilderung des Lebens in Rumänien unter der Ceauşescu-Diktatur unter die Haut geht. Das Aufeinanderprallen der Welten von Stefan und Raluca, die Unterschiede zwischen den Privilegierten und der normalen Bevölkerung und die Willkür der Verhaftungen durch die Securitate führen vor Augen, dass es keinen Grund gibt, als Europäer auf andere Erdteile herabzublicken. Ist es doch gar nicht so lange her, als vor unserer Haustür Terror-Regime an der Macht waren. Eine unbedingte Leseempfehlung!

Andrei Mihailescu, Guter Mann im Mittelfeld
Hanser, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Guter-Mann-im-Mittelfeld-9783312006694
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: E. L. Doctorow, In Andrews Kopf

Neueste Forschungsergebnisse und diverse esoterisch angehauchte Theorien besagen, dass auch Zellen ein Gedächtnis haben – und dass es etwas wie ein kollektives Bewusstsein gibt. Doch das ist nicht irgendwo gespeichert, sondern einfach da. Was würde aber geschehen, wenn man das Bewusstsein aller Menschen in einem Supercomputer speicherte? Würden die Menschen dann als ihre Geschichte lebendig bleiben oder würden sich eher Geschichte und Geschichten vermischen? Genau diese Frage ist der zentrale Punkt in E. L. Doctorows „In Andrews Kopf“. Der Text ist das letzte Buch des Autors, der im Alter von 74 Jahren am 21. Juli 2015 verstarb.

Quelle: www.kiwi-verlag.de
Quelle: www.kiwi-verlag.de

Machen wir unsere Geschichte oder macht die Geschichte uns?
Andrew ist Professor der Kognitionswissenschaften und erzählt aus seinem Leben. Von der ersten Ehefrau, von der er sich scheiden ließ. Von der zweiten, die er eigentlich gar nicht geheiratet hat, die am 11. September 2001 starb. Von seinen Töchtern: Die eine starb seiner Meinung nach durch seine Schuld, weil er ihr ein falsches Medikament gab. Die zweite musste er nach dem Tod ihrer Mutter weggeben – zu seiner ersten Frau, als Wiedergutmachung. Von den Höhen und Tiefen, von den Glücksmomenten und dem tiefen Fall. Und von seinem Traum, einem Supercomputer, in dem das Bewusstsein all jener gespeichert ist, die einmal lebten und noch leben, jeder ihrer Gedanken, alle ihre Gefühle, jede Handlung, jedes Wort. Und davon, dass es damit möglich sein müsste, Verstorbene wieder lebendig werden zu lassen außerhalb unserer Erinnerung. Und wirft dabei immer wieder die Frage auf, ob wir unsere Geschichten bestimmen – oder die Geschichten, wer wir sind?

Wahrheit ist immer subjektiv
Doctorow lässt seinen Protagonisten Andrew sagen: „Heutzutage kann ich niemandem trauen, am allerwenigsten mir selbst“. Gemeint ist, dass wir alles durch Filter wahrnehmen und so unsere Erinnerung beeinflussen und verfälschen. Manches geht verloren, manches wirkt überdimensioniert. Und jeder Mensch erlebt die Wirklichkeit ein wenig anders, wenn auch die Unterschiede im Gespräch oft verwischen. Doctorow gelingt es, diese Verwirrung und Vermischung der unterschiedlichen Perspektiven in seine Sprache zu packen: manchmal für mich als Leser verwirrend, spricht der Protagonist abwechselnd von sich oder von „Andrew“, und die Einwürfe, die sein vermutlicher Psychotherapeut macht, sind teilweise nur an den Formulierungen oder Fragen zu erkennen. Damit wird der Leser immer weiter hineingezogen in die Welt „in Andrews Kopf“.

Mein Fazit
Verwirrend und faszinierend zugleich zwingt mich „In Andrews Kopf“ zum aufmerksamen Lesen. Je weiter ich lese, desto eher frage ich mich, was wirklich passiert ist. Was hat Andrew erfunden, damit die Abfolge der Ereignisse in seinem Kopf Sinn ergibt, sodass er nicht daran zerbricht? Ein Buch für alle, die mit schöner Regelmäßigkeit an ihrem Verstand zweifeln – und gerade deswegen gerne in den Kopf anderer eintauchen möchten.

E. L. Doctorow, In Andrews Kopf
Kiepenheuer & Witsch, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/In-Andrews-Kopf-9783462048124
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Jiří Kratochvil, Gute Nacht süße Träume

Keine leichte Kost präsentiert der tschechische Autor Jiří Kratochvil seinen Lesern in „Gute Nacht, süße Träume“: Er beschreibt, was sich in der Todesnacht von Adolf Hitler in seiner Heimatstadt Brünn zugetragen haben könnte. Dabei gelingt ihm das Kunststück, inmitten eines düsteren Endzeitszenarios eine Geschichte zu erzählen, die oftmals zum Schmunzeln anregt und in der die Grenzen zwischen Fantasy und Realität nicht klar gezeichnet sind.

Der Autor
Jiří Kratochvil, Schriftsteller, Dramaturg, Kritiker und Publizist, wurde 1940 in Brünn in Tschechien geboren. Er studierte Philosophie, hatte in der sozialistischen Tschechoslowakei lange Publikationsverbot und verdiente sich als Kranführer, Heizer und Bibliothekar den Lebensunterhalt. Seine Werke sind in mehrere Sprachen übersetzt, 1999 erhielt er die höchste Auszeichnung seines Landes, den Jaroslav Seifert-Preis.

Quelle: www.braumueller.at
Quelle: www.braumueller.at

Der Inhalt
Schauplatz der Handlung ist das mährische Zentrum Brünn. Die deutschen Besatzer haben die Stadt auf ihrem Rückzug vor der Roten Armee bereits verlassen, jedoch sind einige deutsche Scharfschützen zurückgeblieben und am Stadtrand kommt es immer wieder zu Scharmützeln. Zwei der Protagonisten, Kostja und Kuba, irren durch die von Bomben zerstörte Stadt: Sie suchen einen amerikanischen Fallschirmspringer, der Penicillin bei sich haben soll, das in den Kliniken dringend benötigt wird.

Protagonist eines zweiten Handlungsstranges ist Jindřich, der von einer Zigeunerin als entscheidendes Zünglein an der Waage auserkoren wurde, sollte es zur mythischen Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse kommen. Begleitet wird Jindřich von einer sprechenden Katze, die ihn leitet und beschützt. Mehrfach kreuzen sich die Wege des Trios, bevor sie sich letztlich auf eine völlig unerwartete Art endgültig begegnen.

Wenn Surrealismus real wird
Jiří Kratochvil entwickelt einen ganz eigenen Sprachstil, um das Grauen der letzten Kriegstage in Worte zu verpacken. Er vermischt geschickt Realität, Mythologie und Fantasy und erschafft damit ein auch für die Nachkriegsgeneration nachvollziehbares Endzeitszenario, in dem sich eine surreale oder groteske Situation an die nächste reiht. Über weite Passagen, etwa bei der Hochzeit der Liliputaner, die auf einem Dach stattfindet, erinnert das Werk an den Surrealismus in den Filmen des chilenischen Autors Alejandro Jodorowsky.

Mein Fazit
Wer die Literatur der Postmoderne schätzt, wird „Gute Nacht, süße Träume“ lieben. Allerdings muss sich der Leser tief auf die Geschichte einlassen. Zunächst ist das Buch etwas schwierig zu lesen. Das liegt einerseits an den zahlreichen tschechischen Eigennamen, andererseits an den langen, oft verschachtelten Sätzen, mit denen der Autor als Stilmittel arbeitet. Gut, dass das Buch mit Anmerkungen abschließt, in denen wichtige Begriffe und die Schauplätze erläutert werden.

Jiří Kratochvil: Gute Nacht, süße Träume. Aus dem Tschechischen von Christa Rothmeier
Braumüller Literaturverlag, Wien 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Gute-Nacht-suesse-Traeume-9783992001477
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezensionsreihe Indonesien zur Frankfurter Buchmesse 2015, Teil 2: Andrea Hirata, Der Träumer

Dass der amerikanische Traum selbst in den entlegensten Winkeln der Welt umsetzbar ist, zeigt der indonesische Autor Andrea Hirata im zweiten Teil seiner Autobiographie „Der Träumer“. Denn trotz aller Widerstände gelingt es ihm, eine gute schulische Ausbildung zu erhalten und im Ausland zu studieren. Selbst seine große Liebe aus Kindertagen scheint nicht unwiderbringlich verloren.

Der Autor
Andrea Hirata wurde auf der Insel Belitung, Indonesien, geboren, wo er auch heute lebt. An der University of Indonesia schloss er ein Wirtschaftsstudium ab. Mit einem EU-Stipendium setzte er seine Ausbildung in Paris und Sheffield fort. Sein Debüt „Die Regenbogentruppe“ (in 25 Sprachen übersetzt) machte ihn zum meistgelesenen Schriftsteller Indonesiens. Wie „Die Regenbogentruppe“ wurde auch „Der Träumer“ in Indonesien verfilmt.

Quelle: www.hanser-literaturverlage.de
Quelle: www.hanser-literaturverlage.de

Der Inhalt
Eigentlich wäre der kleine Ikal mit seinen zwölf Jahren alt genug, um zu arbeiten und seine Familie mit zu ernähren. Grundkenntnisse im Schreiben und Rechnen hat er ja auf der Regenbogenschule erworben. Doch die Arbeit im Zinnbergwerk, die sein verkrüppelter Vater Tag für Tag verrichtet, ist schlecht bezahlt, beschwerlich und bietet keine Perspektiven.

So darf Ikal mit seinem Cousin Arai, der seit dem Tod seiner Eltern in Ikals Familie lebt, die Oberschule in der Bezirkshauptstadt besuchen. Die beiden jungen Männer können sich jedoch nicht voll auf die Schule konzentrieren, sondern müssen für ihren Unterhalt schwer arbeiten. Trotzdem gelingt es ihnen, so gut abzuschließen, dass sie anschließend ein Studium in Jakarta beginnen können. Dank eines EU-Stipendiums können sie an der renommierten Sorbonne in Paris studieren. Seinen Abschluss macht Ikal, der sich für Wirtschaftswissenschaften entschieden hat, schließlich an der Sheffield Hallam University.

Nach der Rückkehr in die Heimat landet Ikal in einem tristen, von der Wirtschaftskrise gezeichneten Land. Statt eines Jobs, der seinen Fähigkeiten entspricht, arbeitet er im Kaffeehaus seines Onkels. Dieser verschwindet eines Tages und kehrt mit A Ling zurück, einer jungen Frau, in die sich Ikal schon als Schüler verliebt und die er immer wieder verzweifelt gesucht hatte.

Ein einfühlsamer Autor
Andrea Hirata erzählt die Geschichte seiner Jugend plastisch, sodass im Kopf des Lesers fast zwangsläufig die Bilder vom Leben und Alltag einfacher Menschen auf einer kleinen indonesischen Insel entstehen. Aus jeder Zeile spricht die Liebe zu Kultur, Land und Leuten, die sich auch über kleine Dinge im tristen Alltag freuen können – und sei es nur das Thema einer Radioübertragung. Die Hintergründe zu den gesellschaftlichen Umwälzungen in Indonesien während des ausgehenden 20. Jahrhunderts reißt er nur insoweit an, als diese Details wichtig für die Geschichte sind und diese abrunden.

Mein Fazit
Der Autor erzählt auf eine zum Teil naiv wirkende und dennoch brillante Art die Geschichte eines jungen Mannes, der an sich und seine (bescheidenen) Träume glaubt und dann auch verwirklicht. Obwohl Andrea Hirata auf eine unmittelbare Sozial- oder Gesellschaftskritik verzichtet, erhält „Der Träumer“ angesichts der aktuellen Diskussion um syrische Flüchtlinge auch eine politische Dimension

Andrea Hirata, Der Träumer
Carl Hanser Verlag, München 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Traeumer-9783446247918Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezensionsreihe Indonesien zur Frankfurter Buchmesse 2015, Teil 1: Laksmi Pamuntjak, Alle Farben Rot. Eine Saga von erschreckender Aktualität

Im Grunde erzählt die indonesische Autorin Laksmi Pamuntjak nur die Geschichte von Amba, einer Frau, deren Zukunft angesichts der politischen Verwicklungen in ihrer Heimat gestohlen wurde. Dabei spannt die Autorin einen Bogen über mehr als vier Jahrzehnte und nimmt Bezug auf eine bekannte Sage. Das Schicksal der Charaktere scheint also vorgezeichnet. Oder hätten sie doch die Chance gehabt, einen anderen Pfad zu wählen?

Foto: Hans Scherhaufer - Danke!
Die Autorin Laksmi Pamuntjak, fotografiert von Hans Scherhaufer – Danke!

Alle Farben Rot: Darum geht es
Die Autorin erzählt eine Dreiecksgeschichte aus der indischen Saga Mahabharata nach. Die Hauptfiguren darin sind Amba, die von Bishma entführt wird, woraufhin sie von ihrem Verlobten verschmäht wird. Amba wird unfreiwillig zur Schicksalsfigur in einem unseligen Bruderkrieg. Die reale Amba hingegen, Tochter eines Lehrers, beginnt ein Anglizistikstudium. Sie lebt getrennt von ihrem Verlobten, weil er in einer anderen Stadt als Lehrer arbeitet und deshalb den Kontakt mit Amba nur per Brief aufrechterhalten kann.

Während des Studiums nimmt Amba einen Job als Übersetzerin in einem Krankenhaus an und verliebt sich in den Arzt Bishma. Amba scheint ihr Glück gefunden zu haben.Angesichts der politischen Wirren stellt sich das vermeintliche Glück als großes Unglück ihres Lebens heraus: Eine leidenschaftliche Affäre endet nach etwa einem Monat, als Amba und Bishma sich während einer Straßenschlacht aus den Augen verlieren. Als Amba bemerkt, dass sie von Bishma schwanger ist, löst sie ihre Verlobung und geht nach Jakarta, ohne sich von der Familie verabschiedet zu haben. Sie heiratet einen deutschstämmigen, US-amerikanischen Anglizisten, der ebenso wurzellos ist wie sie und das Kind wie sein eigenes annimmt.

Und was ist mit dem Geliebten?
Anfang 2006 – ihr Ehemann ist inzwischen verstorben, das Kind erwachsen –, erhält Amba eine anonyme E-Mail. Bishma sei verstorben. Weil dieser mit linken Aktivisten sympathisiert hatte, war er nach Suhartos Machtergreifung im Straflager Buru inhaftiert worden, das er Zeit seines Lebens nicht mehr verlassen hatte. Amba reist nach Buru, findet tatsächlich Bishmas Grab und wird von einer Frau beinahe ermordet, weil sie ein Foto von der gemeinsamen Tochter auf die Grabstätte legen möchte. Nach dieser Verwicklung beginnt Amba zu erzählen…

Der Erzählstil
Laksmi Parmuntjak unterteilt ihre komplexe Saga von nahezu 700 Seiten in mehrere Bücher, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln über die verschiedenen Schicksale und Zeitebenen berichten. Dabei bedient sie sich einer fast märchenhaften Sprache, sodass sich der Leser problemlos in die für Europäer fremde Welt hineinversetzen kann. Dabei gelingt es Laksmi Pamuntjak, die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen Indonesiens neutral zu schildern, ohne Sympathien für die eine oder andere Seite erkennen zu lassen oder gar Schuldzuweisungen zu geben.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Gefesselt von Tabus?
Laksmi Pamuntjak gelingt der schwierige Spagat, mit einigen Traditionen der jungen indonesischen Literatur zu brechen und sich zugleich an einige Tabus zu halten. Wie andere Autoren spricht auch Pamuntjak viele Geschehnisse aus der Zeit der Suharto-Diktatur nicht aus, sondern deutet nur an. Dies lässt Raum für die Phantasie des Lesers, dürfte aber auch der Tatsache geschuldet sein, dass ein Teil der indonesischen Gesellschaft noch den alten Strukturen verhaftet ist, wie es auch in Deutschland nach der Zeit des Nationalsozialismus und dem Fall der Berliner Mauer der Fall war.

Laksmi Pamuntjak ist eine der wenigen indonesischen Frauen, die publizieren. Obwohl sich ein allmählicher Wandel abzeichnet, ist die indonesische Literatur noch stark von Männern dominiert, die für Eliten schreiben, während in der einfachen Bevölkerung die mündliche Verbreitung von Geschichten noch sehr üblich ist. Laksmi Pamuntjak ist die erste Autorin, die sich des Themas der Gefängnisinsel Buru annimmt und dies zum Mittelpunkt ihres Romans macht. Sie hat sich für ihre Erzählung auf die Berichte von ehemaligen Gefangenen gestützt, was im Werk auch an zahlreichen Details ersichtlich wird. Unter anderem war auch der bedeutendste indonesische Schriftsteller Pramoedva Ananta Toer auf der Molukkeninsel inhaftiert. Davon erzählt sein autobiographisches Werk Stilles Lied eines Stummen.

Fazit
„Alle Farben Rot“ ist ein Roman, der sich leicht und zügig lesen lässt. Inhaltlich ist es jedoch keine einfache Kost. Es gelingt Laksmi Pamuntjak meisterhaft, die Geschichte einfacher Menschen zu erzählen, die ihr Glück angesichts von Umbrüchen und gesellschaftlichen Umwälzungen nicht finden dürfen, und zugleich das Interesse für eine fremde Kultur zu wecken. Durch die Wahl Indonesiens als Partnerland für die Frankfurter Buchmesse 2015 und die Präsentation von „Alle Farben Rot“ gewinnt die Saga um Amba und Bashnir ungewollt angesichts der Flüchtlingswelle, die sich 2015 aus Afrika auf den Weg nach Europa macht, erschreckende Aktualität. In den leidigen „Das Boot ist voll“-Diskussionen wird gern vergessen: Hinter jedem Flüchtling steht ein tragisches Einzelschicksal. Jeder Flüchtling hat eine menschenwürdige Behandlung verdient. Dass das auch im „zivilisierten“ Westen nicht zwangsläufig der Fall ist, zeigen nicht nur die Anfeindungen von Rechten, sondern auch die Zustände in den Auffanglagern, wo es oft am Nötigsten fehlt. So hatte Amnesty International bei der Augenscheinnahme des österreichischen Lagers Traiskirchen verheerende Zustände und gravierende Verstöße gegen die Menschenrechte festgestellt. So gerät die Frankfurter Buchmesse 2015, auch unter dem Blickwinkel des Buches von Laksmi Pamuntjak, zu einem politischen Plädoyer, und das ist gut so.

Laksmi Pamuntjak, Alle Farben Rot
Ullstein Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Alle-Farben-Rot-9783550080869
Autoren der Rezension: Harry Pfliegl / Detlef M. Plaisier

Rezension: Vladimir Sorokin, Telluria

Immer schon haben Menschen darüber spekuliert, wie die Zukunft der Menschheit und der Erde wohl aussehen würde. Unzählige Bücher wurden geschrieben, um die Spekulationen festzuhalten und später mit der Realität abzugleichen. Bei Vladimir Sorokins „Telluria“ wünscht man sich, dass die Vision nie Wirklichkeit wird.

Quelle: www.kiwi-verlag.de
Quelle: www.kiwi-verlag.de

Düstere Welten
Der eurasische Kontinent, Mitte des 21. Jahrhunderts: die Staaten, wie wir sie kennen, sind vom Erdboden verschwunden, stattdessen gibt es unzählige Klein- und Kleinststaaten. Köln, Bayern, Moskau sind beispielsweise eigene Republiken, jeder ist mit jedem verfeindet, der Kontinent ist als Folge der vielen Kriege völlig verwüstet. Europa wurde von den Taliban überrannt, die einen radikalen Islamismus installierten. Wissenschaft und Forschung haben Fortschritte gemacht, Autos fahren mit Kartoffelgas, und dank der Gentechnik gibt es riesige Arbeitspferde, die wieder als Beförderungsmittel dienen. Zugleich bevölkern allerlei seltsam anmutende Lebewesen die Erde: Kreuzungen aus Mensch und Tier, Zwerge, Riesen, lebendige Schachfiguren oder aufrecht laufende Hunde und Wölfe. Was alle Lebewesen miteinander verbindet, ist die Sehnsucht nach Telluria, dem gelobten Land. Die Republik Telluria ist das einzige Gebiet auf der Erde, wo die Tellur-Nägel nicht als Suchtmittel verboten sind, sondern zur Heilung und Behandlung eingesetzt werden. Die Tellur-Atome gehen, wenn die Nägel an passender Stelle in den Kopf geschlagen werden, eine Verbindungen mit den chemischen Botenstoffen im Gehirn ein, und führen zu einem Rauschzustand, in dem die Benutzer keine Angst, Schmerzen oder Trauer kennen. Da spielt es auch keine Rolle, wenn bei falscher Benutzung durch die „Zimmerleute“ oder schlechten Bedingungen die Nutzer an den Nägeln sterben – die Sehnsucht nach dem Rausch ist größer. Und so treibt es alle Protagonisten des Buches nach Telluria, wo sie sich endgültige Befriedigung ihrer Sucht erhoffen.

Feuerwerk der Stile
Vladimir Sorokin hat keinen eigenen Stil – oder vielmehr, er hat alle. In 50 Episoden, die völlig unterschiedlich gestaltet sind, vom Märchen zur Dokumentation, vom Heldenlied über Gedicht zu Epos, von der Reiseerzählung zum Roman, werden die Situationen der Protagonisten geschildert; unzusammenhängend und doch wie ein Mosaik ein Ganzes ergebend, da sich die verschiedenen Blickwinkel alle zu einem Ereignis ergänzen. Telluria ist keine fortlaufende Erzählung, es gibt keinen roten Faden, und so ist der Leser in jeder Episode gezwungen, sich im Hinblick auf Protagonisten, Szenerie, Schreibstil und Handlung völlig neu zu orientieren. Das macht den Stoff interessant, damit aber auch zu einer anspruchsvollen Lektüre.

Mein Fazit
Wer bereit ist, sich auf radikale Stilwechsel einzulassen, sich nicht vor einer düsteren Zukunftsprognose fürchtet und Verständnis für die russische, oft etwas melancholische, Seele hat, der wird Telluria lieben. Zeitgleich ist der Text ein wichtiger aktueller Denkanstoß zu der Frage, was geschieht, wenn wir eine Politik der Abschottung und des Nationalismus auf die Spitze treiben und damit zunehmend alle humanistischen und sozialen Werte aus der Gesellschaft drängen.

Vladimir Sorokin, Telluria
Kiepenheuer & Witsch, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Telluria-9783462048117
Autor der Rezension: Harry Pfliegl