Rezension: Robert Seethaler, Der Trafikant

Vordergründig erzählt Robert Seethaler in „Der Trafikant“ die Geschichte der Freundschaft zwischen dem 17jährigen Franz Huchel und dem mehr als 60 Jahre älteren „Deppendoktor“ Sigmund Freud. Doch es geht um mehr: Der Wiener Autor schildert das Wien der 1930er Jahre und den erschreckenden gesellschaftlichen Wandel nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten.

Quelle: https://keinundaber.ch
Quelle: https://keinundaber.ch

Die Handlung
Als während eines Gewitters der Großgrundbesitzer Alois Preininger vom Blitz erschlagen wird, ändert sich das Leben des 17jährigen Franz Huchel radikal: Preininger war der Liebhaber seiner Mutter und unterstützte diese finanziell, nachdem der Vater ihres Sohnes bereits kurz vor der Geburt gestorben war. Deshalb schickt die Mutter ihren Sohn nach Wien zur Ausbildung beim Trafikanten Otto Trsnjek, weil dieser ihr noch einen Gefallen schuldet.

Otto Trsnjek, ein Kriegsversehrter, nimmt den Jungen bei sich auf und weist ihn in die Aufgaben eines Trafikanten ein. Vor allem legt er Franz nahe, sorgfältig die Zeitungen zu lesen, weil er über ihren Inhalt ebenso gut Bescheid wissen müsse wie über die Tabakwaren.

Eines Tages kauft Sigmund Freud eine Zeitung und Zigarren, vergisst jedoch seinen Hut. Franz läuft ihm deshalb nach, die beiden kommen ins Gespräch und im weiteren Verlauf entwickelt sich eine Art Freundschaft zwischen den beiden Männern. Das Leben aller Beteiligten nimmt schließlich eine tragische Wende, als die Nationalsozialisten die Macht über Österreich übernehmen: Otto wird von der Gestapo abgeholt, Freud muss nach London emigrieren und Franz die Geschäftsführung der Trafik übernehmen.

Eine wahre Geschichte?
Robert Seethaler erzählt seine Geschichte unaufgeregt und schnörkellos. Gerade deshalb gelingt es ihm meisterhaft, den Leser in das Wien der 1930er Jahre und in die handelnden Charaktere zu versetzen. Der Leser staunt mit dem einfachen Burschen aus dem Salzkammergut, als er die Wunder der Großstadt kennenlernt und sich im Prater in eine Böhmin verliebt, die ihn jedoch nur ausnutzt. Und schließlich bekommt der Leser auch einen Eindruck davon, wie es gelungen sein könnte, dass ein totalitäres System Besitz von den Menschen und all ihren Lebensbereichen nimmt.

Robert Seethaler pflegt schwarzen Humor, wie er für viele Wiener Erzähler charakteristisch ist, und gibt seinem Werk gerade dadurch mehr Tiefe. Er erzählt eine Geschichte aus einem der düstersten Kapitel der deutschen und österreichischen Historie, die sich genauso zugetragen haben könnte. Gerade das macht den Text auch für die jüngere Generation von Lesern interessant, welche diese Epoche nur noch aus Geschichtsbüchern kennt.

Mein Fazit
Die Charakteristik „typisch wienerisch“ trifft für die Tragikomödie mit manchmal märchenhaften, oft bitterbösen Passagen, voll und ganz zu. Seethaler gelingt das Kunststück, eine Geschichte vor realem, tragischem Hintergrund charmant zu erzählen, indem er die Absurdität des Geschehens anhand einzelner Szenen vor Augen führt. Angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen in Europa wirkt „Der Trafikant“ zugleich erschreckend aktuell.

Robert Seethaler, Der Trafikant
Kein und Aber Verlag, Zürich 2012
Robert Seethaler liest: https://keinundaber.ch/de/autoren-regal/robert-seethaler/
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Trafikant-9783036956459
Autor der Rezension: Harry Pfliegl