Rezension: Gabrielle Zevin, Die Widerspenstigkeit des Glücks

„Wie kann man, umgeben von so vielen Büchern, nur so unglücklich sein?“ Diese Frage aus einem Buch des isländischen Autors Jón Kalmar Stéfansson kommt mir als Leserin am Anfang dieses Buches von Gabrielle Zevin unwillkürlich in den Sinn. Denn dass der Buchhändler A.J. Fikry in seinem kleinen Buchladen auf einer malerischen Insel unglücklich ist, steht außer Zweifel. Doch eine hübsche Buchverlegerin, ein lesehungriger Polizist und vor allem ein kleines, zweijähriges Waisenmädchen sorgen bald dafür, dass A.J. zum Bittersein keine Zeit und keinen Grund mehr hat.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Romantische Geschichte mit ein bisschen Kitsch
Zugegeben, das Ganze klingt zunächst ein bisschen kitschig und ist es an manchen Stellen auch, aber gegen gut dosierten Kitsch habe ich als Leserin nichts einzuwenden. Je weiter das Buch fortschreitet, desto spannender entwickeln sich die Figuren und so manche Geheimnisse kommen ans Licht. So ist das Waisenmädchen Maya in Wahrheit keine Waise, sondern eng mit einer der Hauptpersonen verbandelt. Diese Handlungsbögen machen immer wieder Lust aufs Weiterlesen. Lediglich am Ende ihres Romans trägt Gabrielle Zevin ein wenig zu dick auf. Hier wäre weniger mehr gewesen. Mich versöhnt, dass die Autorin am Ende des Romans noch einmal alle Handlungsbögen so geschickt zusammen führt, dass keine Fragen mehr offen bleiben. Das mag ich als Leserin besonders, denn da halte ich es mit Officer Lambiase, einer weiteren Hauptperson des Buches, die es ebenfalls nicht ausstehen kann, wenn zum Schluss etwas offen bleibt.

Literatur- und Lebensempfehlungen
Eine besonders gute Idee von Gabrielle Zevin sind die „Zwischenkapitel“, die den eigentlichen Buchkapiteln vorgeschaltet sind. Viele Autoren stellen ja Zitate berühmter Schriftsteller an den Anfang eines Buchkapitels. Zevin geht einen Schritt weiter. Sie lässt A.J. Fikry in diesen Zwischenkapiteln Leseempfehlungen für seine Tochter geben, gepaart mit klugen Ratschlägen für ihren späteren Lebensweg. Was für mich als Leserin zunächst etwas ungewohnt ist, entwickelt sich immer mehr zu einem spannenden Stilmittel. Ich habe mir jedenfalls fest vorgenommen, der einen oder anderen Leseempfehlung des Buchhändlers zu folgen.

Mein Fazit: Urlaubslektüre!
Wer ein bisschen Romantik mag und noch ein Buch für den Urlaub sucht, für den ist „Die Widerspenstigkeit des Glücks“ genau passend. Eine wunderbare Geschichte über die Liebe zu Büchern und Menschen und darüber, dass in jedem von uns ein Leser oder eine Leserin steckt und auf jeden auch das richtige Buch wartet.

Gabrielle Zevin, Die Widerspenstigkeit des Glücks
Diana Verlag, München 2015
http://gabriellezevin.com/
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Widerspenstigkeit-des-Gluecks-9783453358621
Autorin der Rezension: Yvonne Giebels

Rezension: Julia Jessen, Alles wird hell

Quelle: www.kunstmann.de
Quelle: www.kunstmann.de

Die Handlung
Ist es ein Liebesroman, ein Lebensroman, ein Familienroman? „Alles wird hell“ von Julia Jessen ist nichts von alledem und doch von allem ein bisschen. In drei großen Teilen beschreibt Jessen das Leben von Oda. Zuerst das kleine Mädchen, das zu einem Teenager wird und gegen die Familie und Lehrer rebelliert, dann die Frau, die ihren Lebenstraum verwirklich hat, aber in ihrer Beziehung und mit ihrem Leben trotzdem nicht wirklich zufrieden ist. Und schließlich die alte Frau, die ihrem Mann beim Sterben hilft und dann selber stirbt. Doch der Roman beschreibt nicht nur Odas Leben, sondern auch das ihrer eigenwilligen Familie, in der meist die Frauen den Ton angeben.

Abrupte Übergänge
Das Buch beginnt mit dem Ende. Als Leserin sehe ich Oda sterben, nehme Teil an ihren Gedanken und Gefühlen. Erst dann beginnt das Buch mit einem Erlebnis Odas als kleines Mädchen. Das Buch wird also in einer Rückblende erzählt. Gleichzeitig ist diese Aufteilung auch eine gewisse Schwäche, denn beim Übergang von einem Teil zum anderen ist mir nicht immer sofort klar, wo die Handlung plötzlich wieder einsetzt. Besonders im Mittelteil fällt mir dieser Bruch auf und es ist schwer, wieder in den Lesefluss zu finden.

Schwieriger Mittelteil
Überhaupt war der Mittelteil für mich der herausforderndste Teil des Buches, insbesondere die Beschreibung der Schwierigkeiten, die Oda mit ihrem Mann hat, weil sie noch ein Kind will, er aber nicht. Odas Gefühlschaos und die Konsequenzen daraus beschreibt Julia Jessen sehr genau. Das ist einerseits spannend, führt andererseits aber auch dazu, dass mir die Hauptfigur zunehmend unsympathisch wird, auch wenn ich manche Dinge gut nachvollziehen kann. Manchmal möchte ich als Leserin einfach nur ins Buch springen und diese Oda kräftig durchschütteln, damit sie wieder zu Verstand kommt und endlich ihr Leben ohne Selbstmitleid auf die Reihe bringt.

Mein Fazit: Lesenswert
Trotz dieser Herausforderung halte ich das Buch von Julia Jessen für sehr lesenswert. Es ist ein spannend und zieht mich in seinen Bann. Und ich merke nicht einmal, dass ich mitten drin bin in der chaotischen, unberechenbaren Gefühlswelt dieser Oda, die mich so schnell nicht mehr loslässt.

Julia Jessen, Alles wird hell
Verlag Antje Kunstmann, 2015
Julia Jessen liest: https://www.youtube.com/watch?v=QfCwQ42GRuM
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Alles-wird-hell-9783956140242
Autorin der Rezension: Yvonne Giebels

Rezension: Helle Helle, Färseninsel

Quelle: www.doerlemann.com
Quelle: www.doerlemann.com

Die Handlung
Die Ich-Erzählerin strandet in einem kleinen Kaff an der dänischen Küste. An einer Bushaltestelle trifft sie auf John und Putte, ein Ehepaar, das in der Nähe der Bushaltestelle wohnt, und wird von ihnen kurzerhand aufgenommen. Die beiden machen keinen großen Aufwand um ihren Gast und schon bald gehört Bente, wie sie von Putte spontan getauft wird, einfach dazu, als sei das schon immer so gewesen.

Poesie von Handlung und Worten
Was in der Zusammenfassung vielleicht etwas langweilig klingt, ist alles andere als monoton. Die Handlung des Buches zieht mich als Leserin sofort in ihren Bann, ohne dass ich so recht beschreiben könnte, warum das so ist. Denn nüchtern betrachtet ist die Geschichte gar nicht besonders aufregend oder spannend. Aber das ist vielleicht genau das Geheimnis. Denn die Autorin Helle Helle schildert ihre einfache Geschichte in einfachen Worten und Sätzen, die dennoch wie Poesie sind. Ich muss mich nicht durch Wortungetüme kämpfen oder durch undurchsichtige Handlungsstränge, um zum wahren Kern des Buches vorzudringen. Es ist einfach alles schon da und wird so leichtfüßig erzählt, dass ich schon zusammen mit Putte, John und Bente in ihrem Haus lebe.

Kurze Irritation durch Rückblicke
Was mich als Leserin in den ersten Kapiteln zunächst etwas irritiert, sind die Rückblicke. In diesen erzählt Bente, wie und warum sie an die dänische Küste gekommen kam, warum sie ihren Mann verließ und welche psychischen Probleme sie in der Vergangenheit plagten. Beim ersten Mal ist für mich nicht sofort erkennbar, dass es sich um ein „Rückblickkapitel“ handelt und so bin ich kurz verwirrt, weil die Handlung nicht nahtlos an das vorher Geschilderte anschließt. Sobald aber klar wird, dass es sich um einen Rückblick handelt, bin ich wieder im Lesefluss. Auch in den Rückblenden bleibt Helle Helle ihrem Stil treu. Sie erzählt auch hier leichtfüßig mit viel Poesie und ohne große Dramatik. Manches ahne ich mehr als dass es ausgesprochen wird.

Mein Fazit: Sehr lesenswert
„Färseninsel“ von Helle Helle kann ich uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen. Es ist ein Buch in einer wunderbaren Sprache, mit echten Menschen, mancher Tragik und einigen skurrilen Aktionen, die ich selbst aus meinem Alltag kenne. Schon nach ein paar Seiten ist dieses Buch wie ein guter Freund, an dessen Seite ich mich wohlfühle.

Helle Helle, Färseninsel
Dörlemann Verlag AG, Zürich 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Faerseninsel-9783038200147
Website der Autorin: http://www.hellehelle.net/english/
Autorin der Rezension: Yvonne Giebels

Rezension: Jens Steiner, Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit

Hauptpersonen des neuen Buches von Jens Steiner sind die beiden Philosophiestudenten Paul und Magnus. Und die beiden sind genauso, wie man sich Philosophiestudenten so vorstellt. Magnus betrachtet die Welt theoretisch und tut nicht viel. Paul wiederum betrachtet das Leben und sein Studium mit zynischer Distanz, tut ansonsten auch nicht viel, trauert seiner alten Flamme hinterher und interessiert sich für die neue Mieterin im Stockwerk über ihm. So gut, so langweilig.

Quelle: www.doerlemann.com
Quelle: www.doerlemann.com

Der Anschlag, der keiner ist
Eines Tages beschließen Paul und Magnus, beim Vortrag des Medienzars Kudelka in der Uni eine Störaktion zu starten – der Klappentext nennt es überzogen einen Anschlag. Darunter stelle ich mir als Leserin mindestens eine Bombe vor, aber bestimmt keine eingespielte Tonbandaufnahme. Danach schmeißen die beiden ihr Studium und entwickeln wirre Philosophien, denen ich als Leserin nicht mal ansatzweise folgen kann. Okay, wenige gute Ansätze gibt es, etwa wenn der Autor seinen Helden darüber philosophieren lässt, ob wir Menschen wirklich so frei sind, wie wir immer glauben. Diese Ansätze sind leider nur ein kurzes Aufleuchten, das schnell wieder verglüht. Genauso wie Magnus, der irgendwann ohne Erklärung aus der Erzählung verschwindet.

Schwache Handlung
Im Verlauf der Handlung wird Kudelka schließlich entführt und Paul wird als Entführer gesucht. Was sich nun zu einem spannenden Kriminalstück entwickeln könnte, endet leider so, wie die Philosophien von Paul und Magnus – ziemlich wirr. Plötzlich taucht ein Homunkulus auf. Nach einer Philosophie von Magnus ist dies eine kleine Gestalt, die bei jedem von uns hinter der Stirn sitzt und darüber entscheidet, was wir sehen. Eigentlich eine witzige Idee. Als Leserin vergeht mir allerdings schnell die Lust, diese Idee weiterzuspinnen, denn der Homunkulus ist eine absolut lächerliche Figur mit Zwergenbart und Rotznase, der mindestens so wirr ist wie die Geschichte, in der er auftaucht. Genauso wenig kann ich den Mann auf dem Dach ernst nehmen, der sich bei der Flucht von Paul als Sphinx geriert und wirre Geschichten über seinen Sohn erzählt, die mit der Handlung so gar nichts zu tun haben.

Fazit: Nicht empfehlenswert
Eine Leseempfehlung für dieses Buch kann ich als Leserin nicht aussprechen. Ganz offen: Es ist so ziemlich das Fürchterlichste, was ich in den letzten Jahren gelesen habe. Spätestens nach Seite 10 habe ich mich gequält. Der Geschichte fehlt ein roter Faden, der Inhalt ist ein absolutes Durcheinander und das Ende ist noch weniger sinnvoll als die Handlung an sich. Wer unterhaltsam über philosophische Fragen nachdenken will, der sollte definitiv ein andres Buch wählen. Vielleicht fehlt mir einfach nur Schweizer Humor.

Jens Steiner, Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit
Dörlemann Verlag AG, Zürich, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Junger-Mann-mit-unauffaelliger-Vergangen-9783038200154
Link zum Autor: http://www.jenssteiner.ch/
Autorin der Rezension: Yvonne Giebels

Rezension: Lutz Schebesta, Pappnase

Für mich als jecke Rheinländerin gibt es nichts Schöneres als die „fünfte Jahreszeit“, den Karneval am Rhein. Max, der Protagonist des Buches „Pappnase“ von Lutz Schebesta, sieht das leider ganz anders. Max hasst Karneval. Verkleiden findet er ja noch okay, aber ansonsten fallen ihm zu den jecken Tagen nur Begriffe ein wie „saufen, kotzen, anbaggern, schlechte Luft, schlechte Witze und schlechte Musik“. Seine Kölner Freunde können das allerdings, genau wie ich, so gar nicht verstehen und versuchen, Max mit allen Mitteln vom Karneval zu überzeugen. Das finde ich als Leserin ganz lustig, denn solche Diskussionen habe ich auch schon oft mit „Nicht-Jecken“ geführt – wortwörtlich.

Quelle: www.lutzschebesta.de
Quelle: www.lutzschebesta.de

Einmal Prinz zu sein…
Dieser Traum steht also definitiv nicht ganz oben auf der Wunschliste von Max. Und doch muss er sich auf einmal ganz schnell damit befassen. Der Grund: Sein Onkel ist gestorben und hat ihm eine Millionen Euro hinterlassen – allerdings nur, wenn Max es schafft, Karnevalsprinz in Köln zu werden. Wer weiß, dass die Kölner ihren Karneval und damit auch ihren Prinzen sehr ernst nehmen, der weiß auch, dass dies geradezu ein hoffnungsloses Unterfangen ist – eigentlich. Max hat allerdings nicht mit seinen Freunden gerechnet, die, nicht ganz uneigennützig, alles daran setzen, dass Max die Million bekommt. Als Max auf einer Karnevalsveranstaltung das Funkenmariechen Anne kennenlernt, findet er die Vorstellung auf einmal auch gar nicht mehr so schrecklich. Schließlich gibt sich Anne nur jemandem hin, der dem Karneval ebenfalls verfallen ist.

Zu sehr konstruiert
Es könnte also eine ganz witzige Geschichte sein, genau passend als Lektüre auf dem Weg zur nächsten Karnevalsparty – wenn, ja wenn Lutz Schebesta am Schluss nicht allzu sehr in die Trickkiste griffe, um die Geschichte zum Ende zu bringen. Schließlich soll es ja eine happy ending story sein. Gut, dagegen habe ich grundsätzlich nichts. Dass sich der Vater des Funkenmariechens Anne dann als Vorsitzender des Karnevalsvereins entpuppt und im Vorstand den Weg frei macht für einen „Prinz Max“, das ist mir doch ein bisschen zu dick aufgetragen. So wirkt der Schluss des Buches sehr konstruiert und der Text endet mit einer leisen Enttäuschung bei mir als Leserin. Ich hatte mir mehr von diesem Thema versprochen.

Eingeschränkt empfehlenswert
Für Karnevalsjecken ist das Buch, trotz seines kostruierten Schlusses, eine gute Lektüre zur Einstimmung auf die kommende Session. Mit rund 200 Seiten ist es zudem nicht zu dick und lässt sich leicht lesen. So manche Situation im Buch hat mich zum Schmunzeln und zu heftigem Kopfnicken gereizt. Für Karnevalsignoranten ist das Buch nicht zu empfehlen. Die sollten – gerade in den tollen Tagen – zu einer anderen Lektüre greifen.

Lutz Schebesta, Pappnase
CreateSpace Independent Publishing Platform, 2015
Link zum Autor: http://www.lutzschebesta.de/
Autorin: Yvonne Giebels

Rezension: Dorthe Nors, Handkantenschlag

Handkantenschlag“ – das ist eine Schlagtechnik aus dem Kampfsport Karate. Nach dem Lehrbuch angewendet, setzt sie einen Gegner schnell und präzise außer Gefecht. Die dänische Autorin Dorthe Nors schreibt in ihrem neuesten Buch zwar nicht über Karatekämpfer, doch wer die Sammlung von 15 Kurzgeschichten liest, der merkt schnell, dass der Titel „Handkantenschlag“ punktgenau gewählt ist.

Quelle: www.osburg-verlag.de
Quelle: www.osburg-verlag.de

Ein harmloser Beginn
Was mich als Leserin der Geschichten erwartet, kann ich zunächst nicht ahnen, denn die Überschriften der Kurzgeschichten klingen recht harmlos. Von „Kennst du Corri?“ über „Das Entenküken“ und „Das Wattenmeer“ bis hin zum „Friseur gegenüber der Münzwäscherei“ erwarte ich als Leserin ein paar kurzweilige, vielleicht auch amüsante oder romantische Geschichten. Weit gefehlt. Wie ein Schlaglicht beleuchtet Dorthe Nors die momentane Situation ganz unterschiedlicher Menschen – und braucht dazu keinen langatmigen Szenenaufbau. Mit einigen präzise gesetzten Worten und Sätzen gelingt es Nors, mich als Leserin unmittelbar in die Szenerie zu versetzen, als würde ich direkt neben den handelnden Personen stehen. Was meist recht harmlos anfängt, bleibt nicht so. Mit ebenso präzise gesetzten Worten und Sätzen, eben mit einem echten „Handkantenschlag“, zerschlägt Nors die gerade aufgebaute Szenerie. Das Kartenhaus der Akteure, gebaut aus Selbstbetrug, Täuschung und Lügen, fällt in sich zusammen.

Deprimierend und zugleich hoffnungsfroh
Obwohl die Geschichten nahezu alle nach demselben Prinzip aufgebaut sind, hat es mich als Leserin immer wieder verblüfft, wie wenig ich auf den unausweichlichen „Handkantenschlag“ vorbereitet war. Bis auf wenige Ausnahmen hoffte ich trotz allem auf ein Happy End – was mir dann verwehrt blieb. Stattdessen ist das Ende nicht selten brutal und mit Gewalt verbunden. Das ist für mich als Leserin mitunter schwer zu verdauen. Doch obwohl die negativen Seiten der Menschen in den Kurzgeschichten überwiegen, gibt es auch hoffnungsfrohe Erzählungen. „Die große Tomate“ zum Beispiel, bei der ich ahne, dass die Geschichte nach der Geschichte im positiven Sinn weitergeht.

Fazit: Unbedingt empfehlenswert
Obwohl „Handkantenschlag“ mitunter ein etwas deprimierendes Buch ist, empfehle ich es zum Lesen. Warum? Weil mir bis jetzt selten ein Buch untergekommen ist, das die menschliche Natur in all ihren Facetten so genau und präzise beschreibt. Ich schlage allerdings vor, die Geschichten in kleinen Dosen zu lesen – jeden Tag ein Häppchen.

Dorthe Nors, Handkantenschlag
Osburg Verlag – Murmann Publishers, Hamburg 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Handkantenschlag-9783955100704
Link zur Autorin: http://www.dorthenors.dk/
Autorin der Rezension: Yvonne Giebels

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 6: Riikka Pulkkinnen, Die Ruhelose. Oder: Das Leichte im Schweren

Der Erstlingsroman der Finnin Riikka Pulkkinnen hat es in sich. Sie spricht Themen an, mit denen ich mich als Leserin nicht gerne beschäftige, wenn ich auf der Suche nach einem unterhaltsamen Roman bin: Tod und Sterben, Sterbehilfe und die herrschende Sexualmoral.

Entscheiden oder zerbrechen

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Da ist Anja, Universitätsprofessorin und eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Ihr Mann ist schwer an Demenz erkrankt und hat ihr bereits vor Jahren das Versprechen abgenommen, ihm eines Tages Sterbehilfe zu leisten. Ein Versprechen, das Anja mehr und mehr belastet und an dem sie zu zerbrechen droht.

Da ist Marie, Schülerin der Oberstufe, die ein Verhältnis mit ihrem Literaturlehrer hat und nicht von ihm lassen kann, obwohl sie ahnt, dass dieses Verhältnis ihr nicht gut tut. Anni, die kleine Tochter des Lehrers, sieht und hört viel mehr, als sie in ihrem Alter eigentlich sollte und Julian, der Lehrer, findet aus dem, was anfänglich eigentlich nur als harmloses Spiel gemeint war, nicht mehr heraus. Immer wieder sucht er nach neuen Rechtfertigungen dafür, warum das Verhältnis mit Marie weitergehen sollte.

Die Figuren im Roman von Riikka Pulkkinnen stehen vor einer schweren Entscheidung oder einer Lebenskrise, und erst ein ungewöhnliches oder dramatisches Ereignis führt zu einer Entscheidung. Fast wähnt man sich als Leserin in einer klassischen Tragödie, in der es ja auch erst zu einer Katastrophe kommt, bevor die Figuren sich weiterentwickeln können oder die Handlungsstränge zusammengeführt werden.

Zusammenfügen, was zusammen gehört

Besonders fasziniert hat mich an diesem Roman, dass die Figuren zunächst nebeneinander her zu laufen scheinen. Erst nach und nach verzahnen sich die Geschichten und Personen miteinander und es entsteht ein großes Bild. Anja, die heimliche Hauptfigur des Romans, ist Maries Tante. Anja begegnet der Tochter Julians begegnet und begräbt mit ihr einen toten Igel in einem kleinen Wäldchen. Das berührt mich.

Mein Fazit

Auch wenn Riikka Pulkkinnen in ihrem Roman also schwere Kost serviert, die man als Leserin erst einmal verdauen muss: Es lohnt sich unbedingt, sich auf diesen finnischen Roman einzulassen. Trotz der angesprochenen Themen kommt die Leichtigkeit in diesem Roman nicht zu kurz und zwischendurch ist Schmunzeln durchaus erlaubt. Dass man sich ganz nebenbei mit ethisch-moralischen Fragen beschäftigt, die auch für die deutsche Gesellschaft relevant sind, ist ein durchaus gewollter Nebeneffekt.

Riikka Pulkkinnen, Die Ruhelose
List Hardcover, 2014
Autorenseite (Finnisch und Englisch): http://riikkapulkkinen.com/teokset
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Ruhelose-9783471350720
Autorin: Yvonne Giebels

Rezension: Teresa Toten, Der ungewöhnliche Held aus Zimmer 13 B

Ist der Herd ausgeschaltet? Die Tür auch wirklich abgeschlossen? Jeder kennt solche eigentlich harmlosen Gedanken. Schlimm wird es jedoch, wenn solche Gedanken zu zwanghaften Handlungen werden, die man zwar als solche erkennt, gegen die man aber machtlos ist. „Zwangsneurose“ heißt das Krankheitsbild, an dem in Deutschland offiziell bis zu drei Prozent der Jugendlichen leiden.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Die anderen sind viel bekloppter

Eigentlich kein Thema für ein Buch, erst recht nicht für ein Jugendbuch? Doch, meint die kanadische Autorin Teresa Toten. Und so spielt in ihrem neuen Jugendbuch „Der ungewöhnliche Held aus Zimmer 13 B“ der 14jährige Adam Spencer Ross die Hauptrolle. Der hat eigentlich genug Probleme am Hals. Er ist 14, seine Eltern haben sich getrennt, sein kleiner Bruder hängt wie eine Klette an ihm und die Sammelleidenschaft seiner Mutter, bei der er wohnt, wird zunehmend zum Problem. Zwangsneurosen, wie das zwanghafte Zählen oder bestimmte Rituale, die er durchführen muss, bevor er eine Türschwelle überschreiten kann, kann er da wirklich nicht brauchen. Ein Trost ist ihm lediglich, dass die anderen Jugendlichen aus seiner Therapiegruppe in Zimmer 13 B „noch viel bekloppter sind“ als er.

Batman und Robin

Doch dann passiert es: Robyn betritt den Raum und Adam ist verloren. Zum ersten Mal ist er bis über beide Ohren verliebt. Für Robyn will er alles tun – sogar daran arbeiten, dass seine Zwangsneurosen verschwinden und er wieder „normal“ wird. Er wählt in der Therapiegruppe die Rolle des „Batman“, des dunklen Superhelden aus Gotham City, der alle anderen beschützt. Eine Rolle, die ihm liegt, denn tatsächlich gibt genau er der Therapiegruppe den notwendigen Rückhalt, auch wenn er es selber gar nicht merkt. Doch am Ende nützt es alles nichts. Sich selber kann Adam nicht beschützen, und so verlangt ihm seine Rolle als Batman zwei Entscheidungen ab, die er eigentlich nie im Leben treffen wollte…

Auch für Erwachsene lesenswert

Mit „Der ungewöhnliche Held aus Zimmer 13 B“ ist Teresa Toten ein Jugendbuch gelungen, das gleichzeitig einfühlsam und urkomisch ist und mich als erwachsene Leserin schmunzelnd an meine eigene Teenagerzeit zurückdenken lässt. Dazu passt, dass es am Ende des Buches nur ein „halbes Happy End“ gibt, ich aber trotzdem das Gefühl habe, dass alles wieder gut werden könnte…

Mein Tipp: Das Buch ist auch für Erwachsene unbedingt lesenswert!

Teresa Toten, Der ungewöhnliche Held aus Zimmer 13 B
cbt, 2014
Link zu Amazon: http://amzn.to/ZEZRpK
Link zur Autorin: http://teresatoten.com/home.html

Autorin: Yvonne Giebels

Rezension: Monika Carbe, Die Friedhofsgärtnerin

Gibt es einen ruhigeren Job als den einer Friedhofsgärtnerin auf dem Zentralfriedhof von Frankfurt am Main? Für Alice ist er genau richtig, und keiner der anderen Mitarbeiter ahnt, dass die ungelernte Hilfskraft Alice, die meist still und zurückhaltend daherkommt und sich für keine Arbeit zu schade ist, ein ganz anderes Leben hinter sich hat. Alice leitete früher erfolgreich eine Künstleragentur, bis sie dem Neid und der Missgunst einiger Kollegen zum Opfer fiel. Sogar Selbstmordgedanken hatte sie gehegt, bis der Hilfsjob auf dem Friedhof kam, der ihr wieder neuen Lebensmut gab – auch und gerade weil sie sich in der Mitte ihrer ausländischen Kollegen sehr wohl fühlt.

Quelle: www.fembooks.de
Quelle: www.fembooks.de

Kriegsgräber als Wendepunkt

Alles könnte also so schön sein, wäre da nicht der Kollege Kollbrand. Er wählt stramm rechts und die ausländischen Kollegen sind ihm ein Dorn im Auge. Seine Stunde schlägt, als Alice und ihre Kollegen sich freiwillig melden, um ein Ehrenmal für die Gefallenen der beiden Weltkriege wieder auf Vordermann zu bringen. Sie finden dort einige Haschischpflanzen, was Kollbrand zufällig mitbekommt. Er schwärzt die Kollegen bei der Verwaltung an. Der fristlosen Kündigung folgt eine Medienhetze. Doch während die anderen kämpfen, zieht Alice sich in ihr Schneckenhaus zurück, verlässt die Wohnung kaum noch und fällt wieder in ein schwarzes Loch. Schließlich hatte sie all das schon einmal erlebt. Erst ihr Vermieter, der ihr auch finanziell unter die Arme greift, schafft es, ihr wieder neuen Lebensmut zu geben. Schließlich arbeitet Alice wieder als Gärtnerin. Einer ihrer früheren Kollegen hat mittlerweile eine erfolgreiche Firma gegründet. Statt in den Gärten der Toten arbeitet Alice nun in den Gärten der Lebenden. Fast scheint dies am Ende des Buches ein Symbol dafür zu sein, wie Alice wieder ins Leben zurückfindet. Und Kollbrand? Er gewinnt am Ende deutlich weniger als erhofft und ist geschlagen.

Prädikat: Unbedingt lesenswert

Für mich ist „Die Friedhofsgärtnerin“ ein unbedingt lesenswertes Buch. Eingebettet in eine wunderbare Geschichte über Freundschaft, Solidarität und Lebensmut wird der Leser immer wieder dazu veranlasst, sich Gedanken über die Gesellschaft und die eigene Rolle darin zu machen. Dabei kommt das Buch von Monika Carbe nicht als moralinsaure Epistel mit erhobenem Zeigefinger daher, wie es bei deutschen Autoren sonst oft der Fall ist. Schmunzeln und Mitfiebern ist hier durchaus erlaubt, und wer sich ein wenig in Frankfurt auskennt, der wird sogar manche Schauplätze wiedererkennen.

Monika Carbe, Die Friedhofsgärtnerin
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main, 2014
Link zu Amazon: amzn.to/1rIztIj
Link zur Autorin: http://monika-carbe.de/

Autorin: Yvonne Giebels

Rezension: Jan-Philipp Sendker, Herzenstimmen

Der Titel des Romans von Jan-Philipp Sendker klingt zunächst nach einem schnulzigen Liebesroman. Doch schon nach den ersten Seiten wird klar: „Herzenstimmen“ ist alles andere als das.

Hauptperson des Buches ist Julia Win, Anwältin in New York und bestens durchorganisiert. Spontan ist bei Julia nichts, noch nicht einmal ein Treffen mit ihrer besten Freundin. Doch dann erhält Julia unerwartet einen Brief von ihrem Halbbruder U Ban aus Burma, den sie zehn Jahre zuvor kennengelernt hatte. Von dieser Reise erzählt der Vorgängertext „Herzenhören“. Und doch ist „Herzenstimmen“ mehr als eine bloße Fortsetzung, denn auch wer das erste Buch nicht gelesen hat, ist von Julias Geschichte gefesselt.

Nachdem Julia den Brief ihres Bruders gelesen hat, hört sie plötzlich die Stimme einer Frau in ihrem Kopf, die offensichtlich sehr verängstigt ist. Wie jeder „normale“ Mensch geht Julia zu einem Psychotherapeuten, doch der kann ihr nicht helfen. Erst durch die Intervention ihrer besten Freundin wird Julia klar, dass sie zurückkehren muss nach Burma, in das Land ihres Vaters, um herauszufinden, was es mit dieser geheimnisvollen Stimme auf sich hat – und das, obwohl die Stimme versucht, sie mit allen Mitteln von dieser Reise abzuhalten.

Julia fliegt nach Burma. Hier sieht sie nicht nur ihren Bruder wieder, sondern findet auch ein völlig verändertes Land vor, das auch mich als Leser fasziniert. Jan-Philipp Sendker gelingt es, in seinem zweiten Roman nicht nur eine spannende Geschichte zu erzählen, sondern dem Leser auch die Geschichte Burmas näherzubringen. Das geschieht nicht mit dem Holzhammer, sondern ist so geschickt in die Geschichte eingebettet, dass man es als Leser kaum bemerkt. Besonders deutlich empfindet der Leser dabei die allgegenwärtige Macht des Militärs und die Ohnmacht der Bevölkerung, sich gegen das Militär zu wehren. Romantisch-verklärende Blicke auf die ostasiatische Lebensweise, wie sie im Westen vielerorts bis heute Konjunktur haben, haben hier keinen Platz. Und trotzdem ist der Roman keine Generalabrechnung oder Anklage – im Gegenteil: Er beschreibt sehr behutsam die Verhältnisse in Burma und entfaltet gerade dadurch eine ungeheure Wucht.

In Burma angekommen, wird Julia mit Hilfe ihres Bruders schnell klar, dass auch die Stimme in ihrem Kopf unmittelbar mit der brutalen Militärherrschaft über Burma zu tun hat. Für Julia beginnt eine gefährliche Spurensuche, an deren Ende sie durch ihre Beharrlichkeit die berührende Geschichte von Nu Nu (der Stimme in ihrem Kopf), ihrem Mann Maung Sein und den gemeinsamen Söhnen Ko Gyi und Thar Thar kennt. Vor allem aber weiß sie, was im Leben wirklich zählt.

„Herzenstimmen“ ist ein tief-bewegender Roman über die Geschichte Burmas und darüber, dass das Leben oft vielschichtiger ist, als es auf den ersten Blick scheint. Es lohnt sich, diese Vielschichtigkeit aus der Sicht von Jan-Philipp Sendker zu erforschen.

Jan-Philipp Sendker, Herzenstimmen
Karl Blessing Verlag (2012)

Autorin: Yvonne Giebels