Rezension: Jacinta Nandi, nichts gegen blasen

Das satte Pink vor dem blassrosa Hintergrund macht es unmöglich, kein zweites Mal hinzugucken. Das ist doch wohl nicht…? Ist das etwa…? Nein, ist es nicht. Es ist keine Fotze, die mir hier entgegenspringt, sondern ein geöffnetes Geldtäschchen. Ich muss schmunzeln. Ein originelles und cleveres Cover, wenn man bedenkt, dass „Fotze“ ursprünglich „Tasche“ bedeutet.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Humorvoll und gleichmütig
So amüsant wie die Umschlaggestaltung liest sich auch das Buch mit dem vielsagenden Titel „nichts gegen blasen“. Jacinta Nandi hat nichts einzuwenden gegen blasen, ficken, Weintrinken, rauchen im Bett (wenn sie sturmfrei hat), viel und ungesundes Essen und Dokus über Lady Di. Das einzige, was ihr wirklich aufstößt, ist die Frage, warum sie nach Deutschland kam. Dann gibt sie ehrliche Antworten (wegen des Kindergeldes, um Gerhard Schröders Schwanz zu lutschen, um ihr Deutsch zu verbessern), die allesamt wahr sind oder komplett erfunden – wer weiß das schon.

Tatsache ist jedenfalls, dass die Halb-Inderin im Jahr 2000 von London nach Berlin zog, wo sie seither lebt und arbeitet. Sie ist Mitglied verschiedener Lesebühnen, schreibt eine Kolumne für das englischsprachige Magazin Exberliner und einen Blog für die taz. Dort wie auch hier in ihrem ersten Buch erzählt sie Episoden aus ihrem nicht ganz uninteressantem Leben: Von ihrer Mutter, die an MS erkrankte, ihrer Tante Trudie, die früher auf den Namen Bob hörte und als ihr Stiefvater ein richtiges Arschloch war, von ihren Fickterminen mit schönen Penissen und Muschis und ihrer Zeit im Frauenhaus, in das sie flüchtete als ihr Exmann sie kurz nach der Geburt ihres Sohnes erst anschrie und schließlich verprügelte, weil er mit ihrer Stilltechnik unzufrieden war. Selbst so schockierende Geschichten wie diese letzte erzählt die Autorin mit solcher Nonchalance, dass ich mir das Lachen nur schwer verkneifen kann:

„Warum hat er dich denn angeschrien?“
„Wegen dem Winkel.“, sage ich.
„Wegen dem Winkel?“, fragt Jens, total überrascht.
„Wegen des Winkels“, sage ich.
„Ja“, sagt Jens. „Wegen des Winkels. Aber welchen Winkel meinst du?“
„Wegen dem Winkel meiner Brustwarze.“

Keine Feuchtgebiete
Nandis Stil ist Geschmackssache: Sie arbeitet mit systematischen Wiederholungen und einer derben, unverblümten Sprache. Unter anderem wohl letzterer wegen wird sie bisweilen mit Charlotte Roche verglichen. Den ersten Satz des Buches lesend („Ich habe einen ganz schlimmen Pilz […]“) fürchte auch ich kurzfristig hier einer weiteren Helen zu begegnen. Aber Nandi kennt Grenzen. Bei aller Offenheit verschont sie uns doch mit feuchten Details. Der größte Unterschied zwischen ihr und Roche aber ist, dass sie nicht schockieren oder provozieren, sondern zum Lachen bringen will: „I would say anything: I’d admit to having raped a baby bunny for the fun of it, murdered my granny for a bet or wanked off a homeless guy for a fiver, IF there was a laugh in it.“ So bleibt immer ein letzter Zweifel, ob Nandis ehrliche Erzählungen auch wahr sind oder nur lustig sein sollen.

Mein Fazit
Jacinta Nandi hat mich mehrmals zum Lachen gebracht, genauso oft aber auch mit ihrem eigenwilligen Stil und einer gewissen Bedeutungsarmut ermüdet. Insgesamt ist das Buch ein großes Kann, definitiv aber kein Muss.

Jacinta Nandi, nichts gegen blasen
Ullstein, 2015
Homepage der Autorin: www.jacinta-nandi.de
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Nichts-gegen-blasen-9783864930294
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Carl Nixon, Lucky Newman

Mit den Worten „Meine Mutter hat sich unsterblich in einen Mann ohne Gedächtnis verliebt“ erringt ein über 80-jähriger Mann das Interesse von Carl Nixon. Damit die Geschichte seiner Familie nicht verloren geht, möchte der alte, wohlhabende Mann diese erzählt haben: in einem Buch.

Quelle: www.weidleverlag.de
Quelle: www.weidleverlag.de

Was wäre, wenn wir noch einmal komplett neu anfangen müssten?

Mai 1919, in einer kleinen Stadt einer britischen Kronkolonie: die Krankenschwester Elizabeth Whitman erhält ein Angebot, gegen gute Bezahlung einen reichen Mann zu pflegen, der mit einer Kriegsverletzung aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrte. Doch die Kopfverletzung, die der wohlhabende Paul Blackwell erlitten hat, hatte weitreichende Folgen: sein gesamtes Gedächtnis ist ausgelöscht, er weiß weder wer noch wo er ist, kennt niemanden seiner alten Freunde und auch seine Frau nicht mehr und auch alle gesellschaftlichen Regeln sind ihm fremd. Seine Erinnerung beginnt erst in dem Moment, als er schwer verletzt mehrere Tage in der Kälte eines Schützengrabens ausharren muss, während rund um ihn der Krieg tobt. Da er sich nicht an seinen Namen erinnern kann, nennen ihn die Sanitäter „Lucky“. Fortan ist das sein Name.

Während seine Frau unbedingt will, dass er sich daran erinnert, Paul Blackwell zu sein, hat Elizabeth Verständnis für Lucky und seinen Versuch eines Neuanfangs, ist doch ihr eigener Ehemann und Vater ihres Sohnes im Krieg verschollen. Als Lucky zwar lernt, sich in der Gesellschaft zu bewegen, jedoch sein Gedächtnis nicht wieder erlangt, lässt seine Frau ihn in eine Irrenanstalt einweisen, wo er unter Drogen gesetzt wird – und Elizabeth, die sich in Lucky verliebt hat, beginnt um seine Freiheit und damit um sein Leben zu kämpfen.

Humor als Waffe gegen den Schrecken

Carl Nixon gelingt es fast vom ersten Satz an, seine Leser mit seinem ironischen Stil in den Bann zu ziehen. Die Schrecken des Ersten Weltkriegs, die Armut und das Elend jener Männer, die als Soldaten in den Krieg zogen und als Krüppel wieder kamen, das Sterben und die Leiden derer, die daheim in der Ungewissheit leben müssen, ob ihr Sohn, Mann oder Vater überhaupt noch lebt – sind die zentralen Themen das Buches. Der Autor lässt Elizabeth ihrem Sohn eine Geschichte erzählen über einen Ballonfahrer, der in fernen Ländern wilde Abenteuer erlebt, von Heldenmut, Tod und Schätzen umgeben. Am Ende der Geschichte stirbt der Ballonfahrer, weil er sich für seine Freunde opfert. So soll der Verlust seines Vaters für den Buben leichter zu ertragen und besser zu begreifen sein. Diese Geschichte in der Geschichte und das gesamte Buch sind dabei ironisch-witzig, regen immer wieder zum Lachen an und machen es damit möglich, das Grauen zu begreifen, ohne daran zu zerbrechen, eine der größten Stärken der Menschheit, konzentriert in einem Buch.

Mein Fazit

Eine ungewöhnliche Lebensgeschichte, in ungewöhnlichem Stil erzählt. Eine Geschichte, die von der ersten Seite an fasziniert, und die man eigentlich nicht mehr aus der Hand legen will, bis man sie ganz gelesen hat. Durch die selbstironischen Einwürfe des Autors als Erzähler entsteht zusätzlich der Eindruck, das Ganze würde am Lagerfeuer erzählt werden, während die Leser mit offenem Mund lauschen – eindeutig ein Buch, das man gelesen haben sollte.

Carl Nixon, Lucky Newman
Weidle Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Lucky-Newman-9783938803714
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Dagmara Dominczyk, Wir träumten jeden Sommer

Mit Schauspielern, die sich als Autoren ausprobieren, ist es ja oft so wie mit Sängern, die plötzlich große Kinohits produzieren wollen: Viel heiße Luft und jede Menge Selbstbeweihräucherung. Nun hat Dagmara Dominiczyk ihren Debütroman vorgelegt.

Zur Autorin
1976 in Polen geboren, emigrierte die Autorin im Alter von sieben mit ihrer Familie nach New York. Später studierte sie am renommierten Carnegie Mellon University Dramaturgie, spielte unter anderem am Broadway, bis sie schließlich 2001 eine kleinere Rolle in Rock Star erhielt. Es folgten weitere Auftritte in Kinsey und Running with Scissors. Heute lebt Dagmara Dominczyk mit ihrem Mann und zwei Kindern in New Jersey.

Quelle: www.suhrkamp.de
Quelle: www.suhrkamp.de

Die Sommer einer Jugend
Für Anna ist es wie ein Traum, als sie nach vielen Jahren endlich wieder ihren Heimatort wiedersehen kann. Nachdem ihre Familie aus politischen Gründen in die USA geflüchtet war, sieht sie 1989 endlich ihre Großeltern wieder und findet mit ihrem Exotenstatus als Mädchen aus Amerika sofort auch viele Freunde unter den Kindern in ihrem Ort. Sie kehrt im nächsten Jahr zurück und verbringt von nun an die Sommer gemeinsam mit ihren zwei besten Freundinnen, der schüchternen Kamila und der schönen Justyna, am See und in den Hügeln der Umgebung. Typische Mädchenthemen und Eifersucht adoleszente Eifersüchteleien kreisen stetig zwischen ihnen, bis der Sommer kommt, in dem Anna ihre Unschuld verliert. Sie wird von einem der Jungen aus der Gruppe vergewaltigt, traut sich aber nicht darüber zu reden. Daraufhin wendet Anna ihrer Heimat den Rücken zu.

Viele Jahre später steht das Leben der drei Freundinnen, die sich schon lange aus den Augen verloren haben, am Scheideweg: Anna ist eine berühmte Schauspielerin geworden. Sie versteckt sich vor ihrem Manager und vor allem dem Ende ihrer Beziehung. Nach dem schockierenden Geständnis ihres Ehemannes flüchtet Kamila zu ihren Eltern in die USA und Justyna sitzt mitten in der Nacht mit ihrem kleinen Sohn in dem Haus, in dem soeben ihr Mann von ihrem Schwager ermordet wurde. Können diese Schicksalsschläge die Freundinnen nach so langer Zeit wieder zusammenführen…

Frauenroman oder Entwicklungsroman?
Dagmara Dominczyk schreibt sicher und nüchtern sowohl über die Jugendepisoden der drei Protagonistinnen als auch über die Ereignisse in folgenden Jahren. Durch den stetigen Sprung zwischen den vergangenen Sommern in Polen und den aktuellen Geschehnissen schaffst sie es, die Handlung interessant und spannend zu halten. Sofort fallen die Verbindungen zur eigenen Biographie der Autorin ins Auge, womit besonders die Figur Anna sehr plastisch und lebensecht wirkt. Ihre beiden Freundinnen hingegen erstarren in ihren Stereotypen: Justyna als gefallene Schönheit, Kamilla als die pummelige und ewig graue Maus. Genau wie diese beiden Gegensätze steckt der Roman zwischen leichter Sommerlektüre und Coming of Age-Drama fest. Für ersteres ist der Roman zu ernst und für letzteres streift er die wichtigen Themen zu oberflächlich.

Mein Fazit
Ein sehr gelungenes Debüt, das meine Erwartungen übertroffen, aber leider zu viele interessante Aspekte der Geschichte übergangen hat. Der Roman hat bei mir kein wirkliches Echo hinterlassen, nachdem er wieder im Regal stand.

Dagmara Dominczyk, Wir träumten jeden Sommer
Insel Verlag, 2014
Dagmara Dominczyk in der Darian Library 2013 (englisches Original): https://www.youtube.com/watch?v=RxxKqrJ66ZU
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Wir-traeumten-jeden-Sommer-9783458175940
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

André Herzberg bei Lehmanns. Oder: Was passiert, wenn Autoren auch noch singen können

Endlich wieder Dienstag, endlich wieder Leseabend bei Lehmanns. Auf diesen Abend hatte ich mich schon sehr gefreut, denn bereits einige Wochen zuvor hörte ich in vielen Gesprächen, dass André Herzberg auf der Bühne ein wahres Erlebnis sei – als Musiker wie Autor.

Bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung, während Kunden noch plaudernd durch die Bücherreihen schlendern, keimt in mir das Gefühl: Dieser Abend wird anders. Der Tisch auf der kleinen Bühne ist beiseitegeschoben worden und André Herzberg ist mit der Technik beschäftigt. Seine Gitarre will gestimmt und korrekt an den Verstärker angeschlossen sein. Routine für den Musiker, den die meisten Gäste an diesem Abend vor allem als Sänger der Berliner Rockband Pankow kennen. Nur ich nicht. Ich musste das in Vorbereitung auf die Lesung recherchieren, weil ich einfach zu jung bin und meine Mutter eben mehr Interesse für Marianne Rosenberg an den Tag gelegt hatte.

Lesung André Herzberg bei Lehmanns 09. Juni 2015. Foto Detlef M. Plaisier (55)André Herzberg steht selbstverständlich nicht das erste Mal in Leipzig auf einer Bühne. Erst vor wenigen Wochen hatte er sein Buch „Alle Nähe fern“ im Rahmen der Buchmesse präsentiert und auch an diesem Dienstag wird er nach Ladenschluss von den drei Generationen einer Familie lesen, die ihren Platz und ihre Zugehörigkeit suchen und sich dabei immer mehr voneinander entfernen. „Je näher das Buch in die Gegenwart kommt, umso autobiographischer wird es“, lächelt Herzberg gleich zu Beginn der Lesung die meist gestellte Frage souverän weg.

Vom Kaiserreich bis heute zieht sich der Roman, folgt der männlichen Linie vom Ablegen des jüdischen Glaubens durch den Vater zu Gunsten des Kommunismus bis zur Wiederentdeckung durch den Sohn. Die Parallelen zwischen Buch und Herzbergs eigener Familiengeschichte sind offensichtlich. Auch der Lesung verleiht er diese Persönlichkeit, denn zu Beginn singt er mit seiner klaren und doch etwas rauchigen Stimme ein Lied über das Märchen der Freiheit, spricht frei mit dem Publikum. Er gibt jedem im Raum das Gefühl, man sitze mit ihm bei einem Bier in einer urigen Kneipe. In seinem sympathischen Berliner Dialekt erzählt Herzberg, wie Heinrich Zimmermann aus dem ersten Weltkrieg nach Hause kommt oder wie dessen Enkel Jakob aus einem wirren Traum seiner Beschneidung erwacht, die sein kommunistischer Vater jedoch nie zuließ. Zwischendurch greift er wieder zur Gitarre, steht beim Applaus auf, gibt gern den Rufen nach Zugabe nach.

www.ullsteinbuchverlage.de
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Er plane das auch ein, erzählt Herzberg, je nachdem wie das Publikum in Stimmung sei und auch, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer rund um die ernsten Themen wie Nationalsozialismus, Nachkriegszeit und Existenzangst aufrecht zu halten. Herzberg sucht für jeden neuen Auftritt die passenden Passagen im Roman und Lieder aus. Jeder Auftritt ist anders. Man kann ihm förmlich dabei zusehen, wie er zwischen der Rolle des Autors und der des Musikers hin- und herspringt, in seiner Körperhaltung, seiner Stimme. Er liest, wie es nur wenige Autoren können, und gerade das hat dem Abend eine ganz besondere Note verliehen.

Ich habe André Herzberg sowohl als Autor als auch als Musiker kennen lernen dürfen. Aber zwei Dinge sind in jeder seiner Rollen gleich geblieben: Sein Hut und seine roten Turnschuhe – er möchte ja auch wiedererkannt werden. Mein Buch signiert André Herzberg schlicht mit dem Vornamen. Ein Überbleibsel aus der Musikerzeit, sagt er. Es ginge einfach schneller.

Autorin Jasmin Beer hat inzwischen einen festen Platz bei den Leseabenden von Lehmanns. Eine Rezension zum Buch gibt es hier. Rezensentin Carina Tietz schreibt: „André Herzberg baut mit nur wenigen, aber intensiven Worten eine Dramatik auf, die mich fesselt.“

Alle Fotos: Detlef M. Plaisier

4782

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Diese Überschrift gab es doch schon auf diesem Blog? Richtig. Aber man kann es nicht oft genug sagen: Wer Bücher liebt, kauft in einer der 4782 Buchhandlungen vor Ort in Deutschland. Und da gibt es keine Ausrede: Wer nicht weiß, wo er bequem um die Ecke stöbern und bestellen kann, der klickt ganz einfach hier und bekommt den Buchhändler in seiner Nähe angezeigt – mit Adresse, Website und Routenplaner. Auf gehts!

Rezension: Gabrielle Zevin, Die Widerspenstigkeit des Glücks

„Wie kann man, umgeben von so vielen Büchern, nur so unglücklich sein?“ Diese Frage aus einem Buch des isländischen Autors Jón Kalmar Stéfansson kommt mir als Leserin am Anfang dieses Buches von Gabrielle Zevin unwillkürlich in den Sinn. Denn dass der Buchhändler A.J. Fikry in seinem kleinen Buchladen auf einer malerischen Insel unglücklich ist, steht außer Zweifel. Doch eine hübsche Buchverlegerin, ein lesehungriger Polizist und vor allem ein kleines, zweijähriges Waisenmädchen sorgen bald dafür, dass A.J. zum Bittersein keine Zeit und keinen Grund mehr hat.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Romantische Geschichte mit ein bisschen Kitsch
Zugegeben, das Ganze klingt zunächst ein bisschen kitschig und ist es an manchen Stellen auch, aber gegen gut dosierten Kitsch habe ich als Leserin nichts einzuwenden. Je weiter das Buch fortschreitet, desto spannender entwickeln sich die Figuren und so manche Geheimnisse kommen ans Licht. So ist das Waisenmädchen Maya in Wahrheit keine Waise, sondern eng mit einer der Hauptpersonen verbandelt. Diese Handlungsbögen machen immer wieder Lust aufs Weiterlesen. Lediglich am Ende ihres Romans trägt Gabrielle Zevin ein wenig zu dick auf. Hier wäre weniger mehr gewesen. Mich versöhnt, dass die Autorin am Ende des Romans noch einmal alle Handlungsbögen so geschickt zusammen führt, dass keine Fragen mehr offen bleiben. Das mag ich als Leserin besonders, denn da halte ich es mit Officer Lambiase, einer weiteren Hauptperson des Buches, die es ebenfalls nicht ausstehen kann, wenn zum Schluss etwas offen bleibt.

Literatur- und Lebensempfehlungen
Eine besonders gute Idee von Gabrielle Zevin sind die „Zwischenkapitel“, die den eigentlichen Buchkapiteln vorgeschaltet sind. Viele Autoren stellen ja Zitate berühmter Schriftsteller an den Anfang eines Buchkapitels. Zevin geht einen Schritt weiter. Sie lässt A.J. Fikry in diesen Zwischenkapiteln Leseempfehlungen für seine Tochter geben, gepaart mit klugen Ratschlägen für ihren späteren Lebensweg. Was für mich als Leserin zunächst etwas ungewohnt ist, entwickelt sich immer mehr zu einem spannenden Stilmittel. Ich habe mir jedenfalls fest vorgenommen, der einen oder anderen Leseempfehlung des Buchhändlers zu folgen.

Mein Fazit: Urlaubslektüre!
Wer ein bisschen Romantik mag und noch ein Buch für den Urlaub sucht, für den ist „Die Widerspenstigkeit des Glücks“ genau passend. Eine wunderbare Geschichte über die Liebe zu Büchern und Menschen und darüber, dass in jedem von uns ein Leser oder eine Leserin steckt und auf jeden auch das richtige Buch wartet.

Gabrielle Zevin, Die Widerspenstigkeit des Glücks
Diana Verlag, München 2015
http://gabriellezevin.com/
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Widerspenstigkeit-des-Gluecks-9783453358621
Autorin der Rezension: Yvonne Giebels

Rezension: Nina Sedano, Happy End – Die stillen Örtchen dieser Welt

In ihrem neuen Buch ist die „Ländersammlerin“ Nina Sedano nicht nur Globetrotterin, sondern vor allem „Klobetrotterin“. Ein Muss für jeden, der mal muss.

Quelle: www.edel.com
Quelle: www.edel.com

Nach dem ersten harten Brocken wird es fluffig
Nina Sedano startet ihr „Happy End“ etwas unglücklich: In dem 30seitigen Kapitel über die Kulturgeschichte der Toilette bringt sie so viele Daten und Zahlen unter, dass – effektiv wie bei einer Klospülung – jede Information sofort durchgespült und weggeschwemmt wird. Hier hätte ich mir einen knackigeren, aufs Wesentliche beschränkten Abriss gewünscht, ergänzt durch numerische Details im Anhang. Zum Glück aber raubt mir schon das nächste Kapitel die Furcht, dass es in diesem Stile weitergehen könnte. Die Autorin durchmischt sehr geschickt und abwechslungsreich eigene kurze Erlebnisberichte sowie zahlreiche griffige Anekdoten rund um die Toilette. Ihre persönlichen Erzählungen umfassen dabei zwischen drei und sechs Seiten, die Anekdoten und Fakten gar nur wenige Zeilen. Vom ersten Kapitel abgesehen ist der Rest des Buches also im wahrsten Sinne des Wortes die perfekte Klolektüre – wobei ich selbst Bücher lieber auf dem Sofa lese und davon auch hier nicht abgerückt bin.

Unnützes und Witziges über äußerst Nützliches
Von überraschenden Geburten auf dem Örtchen, verlustig gegangenen Wertgegenständen, blinden WC-Passagieren, festgesogenen Hinterteilen auf Flugzeugtoiletten, Klosprüchen und -witzen bis hin zu makabren Todesfällen auf dem Abort ist alles dabei, was man sich an Klo-Wissen wünschen kann. Ein wenig erinnern mich die skurrilen Kurzzeiler, die Nina Sedano sorgfältig nach Ländern und Städten ordnet, an die Kategorie „Unnützes Wissen“ der NEON. Obwohl ich nur selten schallend lache, muss ich doch häufig schmunzeln und den einen oder anderen Satz auch ungläubig kopfschüttelnd mehrmals lesen. Als besonders angenehm empfinde ich den Schreibstil der „Klobetrotterin“, der durch und durch wort(witz)gewandt daher kommt – bisweilen aber auch etwas zu „klolossal“ üppig. Leider hat die Autorin bei aller Wortgewalt auf jegliche anderweitige Bebilderung verzichtet. Ohne die Unterstützung durch Photo oder Skizze hinterlassen die Beschreibungen der vielen bemerkenswerten Örtchen daher nur einen diffusen Eindruck.

Ansonsten aber lässt diese sympathische Klogeschichte nichts vermissen, nicht einmal die Moral: Nina Sedano will nicht nur erheitern, während wir uns erleichtern, sondern das Thema der Notdurft und deren Örtchen enttabuisieren. Wasser, Leben, Ausscheidungen – all das spielt ineinander. Um sich die Zusammenhänge vor Augen zu führen, empfiehlt Sedano allen den Besuch einer Kläranlage und lässt die Toilette selbst einen Appell an ihre Benutzer richten. Statt sie zu verpönen oder mit Müll zu stopfen, sollten wir ihr dankbar sein, denn die Einführung von Klosetts mit Wasserspülung hat unser Leben um 40 Jahre verlängert. Daher: Hoch auf die Toilette!

Mein Fazit
Nina Sedanos gelungene Mischung aus Witzigem und Wissenswerten befriedigt den Lesehunger im Großen wie im Kleinen, zwischendurch als auch am Stück. „Happy End“ ist „Klolektüre“ vom Feinsten und dennoch zu schade für einen Standort auf dem Abort.

Nina Sedano, Happy End – Die stillen Örtchen dieser Welt
Eden Books, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Happy-End-9783944296944
Autorin der Rezension: Katja Weber

Electric Book Fair die Zweite: Jetzt gibts Lesenacht und Barcamp

Nach der erfolgreichen Electric Book Fair 2014 gibt es in diesem Jahr ein neues Format: Verlegerin Nicola Richter (mikrotext) und Kommunikationsdesignerin Andrea Nienhaus laden am 19. und 20. Juni zu einer Neuauflage ein.

banner-ebf15-125x125-pinkDas Literarische Colloqium in Wannsee ist am ersten Abend ab 19 Uhr Schauplatz einer „Elektrischen Lesenacht“. Als Autoren sind dabei Aboud Saeed (Mikrotext), Pippa Goldschmidt (CulturBooks), Gregor Weichbrodt (Frohmann), Imran Ayata (Shelff), Michaela Maria Müller (Frohmann) und Sebastian Christ (Mikrotext). Karten für 8 Euro / 5 Euro gibts an der Abendkasse.

Gearbeitet wird am Samstag von 11 bis 17 Uhr im Veranstaltungsloft Colonia Nova Neukölln. Beim „Electric Afternoon“ kommen die Macherinnen und Macher der digitalen Publishing-Szene im offenen Barcamp-Format zusammen. Bisher sind vier einstündige Workshopslots fest terminiert, darunter zu den Themen „Literaturvermittlung im Netz“ und „Leser von morgen“. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer können selber weitere Workshops anbieten oder Themen vorschlagen. Acht weitere Workshops sind möglich. Karten zu 30 Euro / 20 Euro sind unter https://electricafternoon.eventbrite.de buchbar.

Die Veranstaltung 2015 wird unter anderem von rowohlt e-Book und epubli als Sponsoren unterstützt.

Rezension: Sir Hardy Amies, Das kleine Buch der Herrenmode

Autor der praktischen Sammlung zur Herrenmode ist Sir Hardy Amies (1909-2003), Hofschneider Ihrer Majestät Elisabeth II., in seiner aktiven Zeit bis 1989 wohl der erfolgreichste Couturier in London. Als einer der Begründer der Herren-Konfektionsbekleidung setzte er seinen Anspruch mit dem Ausspruch „Design muss an einem englischen Gentleman aus der Stadt genauso gut aussehen, wie an einem amerikanischen Athleten“ um und erntete dafür großen Erfolg. Herausstechende Leistungen sind die Kostüme in Stanley Kubricks futuristischem Kinofilm „Odyssee im Weltraum“ und die Stil prägende Melone von Patrick Macnee als Superagent John Steed in „Mit Schirm, Charme und Melone“.

Quelle: www.edel.com
Quelle: www.edel.com

Klassiker und Überraschungen
Amies‘ Klassiker spricht den Mann mit beginnendem Interesse am korrekten Herrenoutfit ebenso an alte Hasen im Metier. Der knackige Schreibstil ist leicht verständlich und geht über das Informative hinaus – der Leser lernt dazu. Der lesende Entdecker kann sich themenspezifisch auf Situationen der Kleidungswahl vorbereiten und kann so sicher sein, eine sichere und gute Figur zu machen. Beispielhaft werden Klassiker der Mode erklärt. Was etwa ist ein Glencheck oder ein Hahnentritt-Muster? Wer dann Gefallen gefunden hat, begegnet auch eher unbekannten Details der Herrenmode wie etwa Doeskin, Plus fours und vielen mehr. Eine klassische alphabetische Reihenfolge vermittelt sehr geschickt den Eindruck einer Enzyklopädie und von short stories gleichermaßen. Weiter Pluspunkt ist das handliche Format, ein perfekter Begleiter auch für das Reisegepäck.

Mein Fazit
Es ist schon lange her, dass ich ein so angenehm knackiges und auf den Punkt gebrachtes Lexikon in der Hand gehalten habe. Geführt durch Beispiele, beginnt der Leser seine eigenen Outfits zu erkunden und neu zu kombinieren. Aufgepasst, junge Herren mit dem Gespür für gute Kleidung: Jeder Anlass, ob beruflich oder privat, erfordert korrekte Kleidung. Sie war schon immer die willkommene Eintrittskarte für Erfolg und Ansehen. Sir Amies zeigt dies unaufdringlich und zeitlos.

10404339_741515109247387_7830667400977162955_nSir Hardy Amies, Das kleine Buch der Herrenmode
Eden Books, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-kleine-Buch-der-Herrenmode-9783944296968

Autor Norbert Schaal ist Herrenausstatter, Masskonfektionär und Personal Shopper. Im Mai 2015 feierte sein Unternehmen de Scale einjähriges Jubiläum im aufstrebenden Leipziger Kreuzstraßen-Viertel.

Rezension: Thomas Brussig, Das gibts in keinem Russenfilm

Thomas Brussig, 1964 in (Ost)-Berlin geboren, arbeitet als Schriftsteller und Drehbuchautor. Er studierte nach Abbruch seines Soziologiestudiums an der Filmhochschule „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Mit seinen Büchern „Helden wie wir“ und „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ (beide verfilmt) erlangte er große Bekanntheit.

Quelle: www.fischerverlage.de
Quelle: www.fischerverlage.de

Wenn die Mauer nicht gefallen wäre…
Als Thomas Brussig im Mai dieses Jahres anlässlich des Tübinger Bücherfestes in einem lauschigen Hof aus seinem neuen Buch mit dem sensationellen Titel „Das gibts in keinem Russenfilm“ las, wusste ich: Dieses Buch muss ich haben! (Dass höchstens ehemalige DDR-Bürger den Titel verstanden, war sowohl mir als auch ihm klar.) Der Protagonist in dieser kontrafaktischen Biografie ist der Autor selbst und er heißt auch so. Die Jahre bis zur „Wende“ dürften seinem eigenen Werdegang entsprechen. Auf selbstironische Weise erzählt Brussig von Armee-Erlebnissen, Liebesabenteuern und dem ganz normalen Alltagswahnsinn in der DDR. Er lässt bekannte Politiker und Künstler auftreten, von denen man allerdings nicht weiß, ob sie tatsächlich in der geschilderten Weise im Leben des Autors eine Rolle gespielt haben.

Die Wende findet nicht statt
Von den Ereignissen nach 1989 scheinen mir keineswegs alle erfunden zu sein. Das Leben von Thomas Brussig geht weiter, er schreibt an verschiedenen Romanen und die DDR versucht, ihren Devisenmangel mit dem Bedürfnis der Eingesperrten nach Westreisen zu verknüpfen, sozusagen eine Win-Win-Situation herzustellen. Es werden diverse „Erfindungen“ gemacht, angefangen von hölzernen Windkraftanlagen bis hin zu neuartigen Stromzapfanlagen für Elektroautos. Wobei zu bemerken wäre, dass an keiner Stelle die naheliegende Frage auftaucht, wie es mit der Akzeptanz und der Vereinbarkeit der Abholzung der Wälder mit Umweltschutz und Nachhaltigkeit steht.

Von der Stasi ist nicht mehr oft die Rede, Versorgungsengpässe scheint es auch nicht mehr zu geben. Man vergisstals Leser schnell, dass es in der Phantasie des Autors immer noch zwei deutsche Staaten gibt. So geht leider auch das eigentlich interessante Gedankenspiel (das auch andere Autoren bereits zur Grundlage ihrer Romane machten) unter, gerade so, als wüsste der Autor nicht, wie er es mit Leben füllen sollte. Erst am Ende, als sich Brussig über das Buch eines westdeutschen Jungautoren aufregt, der die friedliche Revolution als Fiktion in seinem Roman schildert, kriegt er noch einmal die Kurve und der Kreis schließt sich.

Probleme mit der Form
An die konsequente Einhaltung der „alten“ Rechtschreibung habe ich mich noch gewöhnen können, nicht jedoch an den vollständigen Verzicht des Plusquamperfektes, da wo die Vorvergangenheit erzählt wird, sowie an den oft schmerzlich vermissten Gebrauch des Konjunktivs.

Mein Fazit
Ein unbedingt empfehlenswertes, weil originelles Buch, das mit selbstironischem Augenzwinkern erzählt, was war und was hätte sein können, getragen von großer Fabulierkunst. Besonders interessant dürfte es für all jene sein, die einen Teil ihres Lebens in der DDR zugebracht haben. Wer selbst schreibt, kann anschaulich verfolgen, welche Kämpfe der Autor beim Entstehen der jeweiligen Romane ausgefochten hat.

Thomas Brussig, Das gibts in keinem Russenfilm
S. Fischer, Frankfurt a.M., 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-gibts-in-keinem-Russenfilm-9783100022981
Autorin der Rezension: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de