Rezension: Yorck Kronenberg, Tage der Nacht

Fast alle Menschen haben diese Erinnerungen, die nur schemenhaft sind und im Hintergrund lauern. Erinnerungen, die prägen, und doch vergessen werden müssen, will man geistig gesund blieben. Nur in den langen Nächten, wenn der Schlaf fehlt, sind sie plötzlich wieder greifbar. Yorck Kronenberg begleitet in seinem Roman „Tage der Nacht“ seinen Protagonisten durch eben jene Nächte, auf der Suche nach Schlaf und Erlösung.

Quelle: www.dtv.de
Quelle: www.dtv.de

Vergessen, aber nicht vergeben
Anton ist Literaturwissenschaftler aus Frankfurt und zieht nach der Pensionierung mit seiner Frau in ein Haus in einem englischen Küstenstädtchen. Dort, fernab der Großstadt, wähnt er sich in Ruhe und Sicherheit, doch das täuscht. Eines Nachts brechen drei Personen in das Haus ein und rauben Anton aus. Obwohl er und seine Frau unverletzt bleiben, weckt das Erlebnis die Erinnerung an seine Kindheit in Berlin in den 1930er und 1940er Jahren. Längst wähnte Anton diese vergessen, doch sie sind plötzlich wieder präsent und rauben ihm den Schlaf. Als Kind war „Toni“ hin- und hergerissen zwischen dem Musiker-Vater, der das Hitler-Regime verachtete und vielleicht auch deswegen künstlerisch eher erfolglos war, sowie der Mutter und dem Großvater, in dessen Uhrenwerkstatt Hitler offen befürwortet wurde. Mit der Verständnislosigkeit des Kindes erlebt Toni die Beziehungskrisen der Eltern und muss schließlich mit ansehen, wie der Vater verhaftet und abgeführt wird. Getrieben von diesen Bildern, macht sich der alte Anton schließlich in einer schlaflosen Nacht auf eine Wanderung entlang der Küste, um sich den erlebten Traumata aus allen Zeiten zu stellen.

Wenn Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen
Yorck Kronenberg spielt in „Tage der Nacht“ mit verschiedenen Zeitebenen: Das Kind Toni, Anton während des Überfalls und Anton im Jetzt wechseln sich ohne sichtbare Kennzeichen und logische Reihenfolge ab. Ganz so, wie es im Kopf von Anton vermutlich von einer Szene zur anderen springen würde. Damit gelingt Kronenberg ein aufwendiges Bild von Antons Psyche, ganz ohne Pathos, das dennoch vermittelt, wie sehr die einzelnen Ereignisse seine Persönlichkeit prägten.

Fazit
„Tage der Nacht“ ist ein eher stilles Buch, das ein sehr genaues Psychogramm eines Menschen zeichnet, der unter dem Nazi-Regime aufgewachsen ist. Durch den kindlichen Blick ist der Eindruck des Erlebten viel unverfälschter und stärker, als es eine Psychoanalyse je sein könnte. Wer sich auf die plötzlichen Sprünge in Antons Gedankenwelt einlässt und zuhört, wird begreifen, warum wir manches nie vergessen dürfen.

Yorck Kronenberg, Tage der Nacht
dtv, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Tage-der-Nacht-9783423280600
Autor der Rezension: Harry Pfliegl