Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 7: Katja Kettu, Wildauge

Dass Katja Kettu mit ihrem dritten Werk „Wildauge“ einen derartigen Erfolg feiern würde, hatte die Autorin wohl in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet. Trotz des heiklen Themas eroberte sie die finnische Bestsellerliste und die Herzen ihrer Leser in mehr als einem Dutzend weiterer Länder im Sturm – und das obwohl oder gerade weil sie ihre Geschichte in einer sehr deutlichen Sprache und aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt, die von der Form her an einen Briefroman erinnern. Das erschwert dem Leser zunächst den Einstieg und ist sicher nicht die klassische Formel, mit der ein Bestseller geschrieben wird.

Die Geschichte

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Quelle: www.galiani.de

Katja Kettu erzählt die wohl intensivsten Monate im Leben der Hebamme „Wildauge“, die von der einfachen Bevölkerung Lapplands ob ihres medizinischen Wissens sowohl geachtet als auch gefürchtet wird. Schließlich spendet sie Leben, vermag aber auch den Tod zu bringen. Im Sommer 1944, einem der entscheidenden Wendepunkte während des Zweiten Weltkrieges, sind mehr als 200.000 deutsche Soldaten im noch befreundeten Finnland stationiert. Darunter auch der Kriegsberichterstatter Johannes, der von den Erlebnissen an der Ostfront traumatisiert ist und sich auf dem ruhigen Posten erholen soll. Die noch jungfräuliche Wildauge (deren wirklicher Name im gesamten Text übrigens nicht offenbart wird) erlebt mit Johannes eine stürmische Zeit der Leidenschaft. Schon bald wird Johannes jedoch in ein Gefangenenlager abkommandiert, wohin ihm Wildauge folgt. Sie arbeitet im Lager als Krankenschwester und wird aus Liebe zu einer Mittäterin.

Kontrovers aufgenommen wurde „Wildauge“ nicht nur wegen der Thematik – die nationalsozialistische Vergangenheit wird in Finnland und Norwegen erst seit wenigen Jahren aufgearbeitet. Auch die ausführlichen Sexszenen, die Direktheit in den Beschreibungen und die raue, oft derbe Sprache mögen anfangs für Irritationen sorgen. Doch genau diese Elemente sorgen dafür, dass „Wildauge“ den Leser in seinen Bann zieht und er die Geschichte körperlich erleben kann. Katja Kettu erzählt eine Geschichte, die in dieser Form wohl nicht passiert ist, sehr wohl aber hätte passieren können.

Eine Meisterin der Sprache

Die besondere Faszination von „Wildauge“ machen aber weder Handlung noch das Schicksal der Protagonisten aus, wie es in jenen Jahren wohl Tausende von Menschen in ähnlicher Form erlebt haben. Vielmehr ist es die Sprache, welche die Figuren leben lässt, die Handlung vorantreibt und den Leser gefangen nimmt. Katja Kettu liebt das Spiel mit der Sprache, sie lässt die Menschen in unterschiedlichen Dialekten sprechen und verleiht alten Worten eine neue Bedeutung. Dieser Aspekt ist naturgemäß im finnischen Original noch wesentlich eindrucksvoller als in der ausgezeichneten Übersetzung durch Angela Plöger. Was jedoch bleibt: Allein anhand der Sprache skizziert Kettu die Protagonistin als facettenreiche Persönlichkeit, die im Umgang mit Johannes zärtlich, fast liebevoll spricht, jedoch auch derb bis an die Grenze zum Ordinären sein kann. Die Autorin zeigt so auf einer tieferen Ebene, wie der barbarische Krieg auch die Sprache und die Menschen, die sie sprechen, verrohen lässt.

Auf Spurensuche in der Vergangenheit

Inspiriert wurde die Autorin zu „Wildauge“ von ihrer eigenen Vergangenheit: Als sie die Briefe ihrer Großmutter an deren Töchter las, begann sie sich für diese nach wie vor totgeschwiegene Zeit zu interessieren. Besonders fasziniert hatte Katja Kettu der Optimismus, den die Briefe ausstrahlten. Während des Krieges war ihre Großmutter eine einfache Frau, die als Tresenkraft an vorderster Front arbeitete und dennoch davon träumte, die Welt zu bereisen und Karriere als Schauspielerin zu machen. Auch in dunkelsten Zeiten kann es einen Lichtschimmer am Horizont geben, für den es sich zu leben lohnt.

Mein Fazit

Es ist Katja Kettu gelungen, eine Geschichte von Liebenden zu erzählen, die an den Verhältnissen ihrer Zeit nur scheitern können. Insbesondere für den deutschen Leser bedeutet „Wildauge“ allerdings eine eher harte literarische Kost. Das liegt weniger an der Thematik an sich, sondern daran, dass die Geschichte im Kulturkreis der Lappen spielt, der mitteleuropäischen Lesern nur wenig vertraut ist. Ein ausführliches Glossar mit Erklärungen, das ebenso wie eine kurze Einordnung in den historischen Zusammenhang in der deutschen Übersetzung enthalten ist, bedeutet eine große Erleichterung für den Leser. „Wildauge“ ist exzellente literarische Kost für den anspruchsvollen Leser.

Katja Kettu, Wildauge
Verlag Galiani Berlin, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Wildauge-9783869710822
Autor: Harry Pfliegl