Rezension: Anita Augustin, Alles Amok. Oder: Der ganz normale Wahnsinn

Wer Skurrilitäten und schwarzen, österreichischen Humor à la Ludwig Hirsch mag, wird Anita Augustins „Alles Amok“ lieben: Die Autorin, die als freie Dramaturgin arbeitet und dem Studium der Theaterwissenschaft in Wien eine Ausbildung zur Barkeeperin anschloss, schickt ihren Protagonisten Jakob auf eine aberwitzige Reise durch den ganz normalen Wahnsinn des alltäglichen Lebens.

Quelle: ullsteinbuchverlage.de
Quelle: ullsteinbuchverlage.de

Die Handlung

Eigentlich ist Jakob ein ganz normaler, junger Mann, der auf einen sicheren Arbeitsplatz hofft und sich als Profi-Demonstrant durchs Leben schlägt. Er macht den Job und seinen Nebenjob, das Sammeln von Pfandgut gemeinsam mit dem Penner Paul,  mehr schlecht als recht. So kann er wenigstens die Rechnungen für die Residenz bezahlen, in welcher seine Mutter in zunehmender Senilität dem Tod entgegen dämmert. Seitdem Jakobs Mutter bei einer Operation im Alter von neun Jahren das Böse aus ihm herausnehmen ließ, trägt Jakob ein dunkles Geheimnis mit sich herum, von dem auch sein näheres Umfeld nichts weiß. Das besteht neben dem Penner Paul, von dem er viele seiner Lebensweisheiten bezieht, aus dem Sicherheitsmann Sigi, einem koreanischen Dichter, dem vermutlich homosexuellen Verkäufer in der Herrenabteilung eines Modehauses und der blonden Nachbarin Babsi, die verzweifelt eine vergebliche Bewerbung nach der anderen schreibt.

Jakob empfindet vermutlich eine Art Freundschaft zu diesen Personen. Er pflegt den Kontakt allerdings nur, weil er sie nach Kräften ausnutzt: Herbert stattet ihn mit der Kleidung für die Demonstrationen aus, die Gedichte des nordkoreanischen Dichters rezensiert er für das mittägliche Bratwurstbrötchen, und Babsi schleppt er regelmäßig in den Baumarkt, um im dortigen Musterhaus vermeintliche Familienfotos zu machen, die er regelmäßig seiner Mutter schickt.

Eine dramatische Wende

Jeder dieser Charaktere hat sich scheinbar im mühseligen Hamsterrad des eigenen Lebens eingerichtet, als der geheimnisvolle Jürgen auftritt und mysteriöse Einladungen ins Paradies verteilt. Jakob, der als einziger keine Einladung erhalten hat, ist trotzdem rechtzeitig am Treffpunkt und fährt mit seinen Gefährten schließlich ins Paradies. Dieses entpuppt sich als Vergnügungspark, in welchem die Angestellten jeden Tag glücklich zu sein haben, um widerum die Besucher glücklich zu machen. Jakob und seine Gefährten bekommen dort feste Jobs: Sie sind die Akteure in der Abteilung „Freakshow“. Jakob, dessen dunkles Geheimnis im Lauf des Buches gelüftet wird, ist von Jürgen als künftiger Star der Show ausersehen. Doch dann geschieht etwas, das die Freaks zum Aufstand gegen die schier allmächtige Parkleitung bewegt. Ist das Paradies nun am Ende?

Der Erzählstil

Temporeich hetzt Anita Augustin vor allem im ersten Teil von „Alles Amok“ von einer skurrilen Szene zur nächsten. Die Absurdität des Geschehens wird oft erst ersichtlich, sobald der Leser die kursiv gesetzten Gedanken des Protagonisten gelesen hat. Bei aller Komik darf der Roman durchaus als gesellschaftskritisch gelten, wobei die Autorin keine eigene Position bezieht, sondern das Geschehen als Beobachter schildert.

Mein Fazit

„Alles Amok“ ist ein Roman, der von der ersten bis zur letzten Seite einfach nur Spaß macht. Wie schon in ihrem Erstling „Der Zwerg reinigt den Kittel“ beweist Anita Augustin auch diesmal wieder gekonnt, dass Humor aus Deutschland durchaus sehr weit oberhalb der Gürtellinie angesiedelt sein kann.

Anita Augustin, Alles Amok
Ullstein Buchverlage, 2014
Link zu Amazon: http://amzn.to/YTS5rK

Autor: Harry Sochor

Rezension: Sophie Sumburane, Gefährlicher Frühling. Oder: Wenn Politik unter die Haut geht

Regionalkrimis dürften allmählich ihren Zenit überschritten haben – zumindest dann, wenn der Autor seine Story nicht mit einem grundlegend neuen Aspekt anreichert, wie es Sophie Sumburane bei ihrem zweiten Krimi „Gefährlicher Frühling“ gelungen ist. Sie meistert den Kunstgriff, einen Mordfall in einem Leipziger Ingenieurbüro mit den Geschehnissen des Arabischen Frühlings zu verknüpfen. Dieser Brückenschlag via illegale Waffentransporte gelingt ihr fast hervorragend. Nur fast hervorragend deshalb, weil der Roman erzählerische Schwächen aufweist, die den aufmerksamen Leser stören. Doch die Story funktioniert, wirkt nicht konstruiert und macht „Gefährlicher Frühling“ zu einem nicht leicht verdaulichen Stück leichter Unterhaltung.

Die Gretchenfrage: Wer war der Mörder?

Quelle: www.sophie-sumburane.de
Quelle: www.sophie-sumburane.de

Die Protagonistin, Kommissarin Charlotte Petzold, wird zu einem Mordfall in einem Ingenieurbüro gerufen, in dem die Chefin Hanna Stieg durch einen Kopfschuss regelrecht hingerichtet wurde. Ganz oben auf der Liste der Verdächtigen steht ihr Lebensgefährte, der sich von ihr trennen möchte, weil er sich zum Hausmännchen degradiert fühlt. Weil er zudem eine Affäre mit Petzolds Kollegin hat, muss diese gezwungenermaßen im Team mit dem jungen Kollegen Mario Lasslo ermitteln.

Eher zufällig stoßen die Ermittler auf Fotos von Waffen, ein verstecktes Konto im Ausland und einen ägyptischen Ingenieur, dessen Rolle in diesem Fall zunächst mehr als mysteriös ist. Die Vermutung, dass hinter diesem Mord weitaus mehr steckt als ein Eifersuchtsdrama, liegt also nahe. Offensichtlich werden über das scheinbar saubere Ingenieurbüro Waffen an die Machthaber in Ägypten verschoben, die damit die sich anbahnenden Aufstände niederschlagen. Dieser Verdacht erhärtet sich erst recht, als Charlotte Petzolds Chef auf offener Straße von einem Unbekannten erschossen wird.

Die Erzählweise

Sophie Sumburane erzählt „Gefährlicher Frühling“ in zwei parallel verlaufenden Handlungssträngen. Die Haupthandlung schildert den Fortschritt der Ermittlungen im aktuellen Mordfall, während der zweite Erzählstrang zwei Jahre weit in die Vergangenheit zurückreicht. Darin wird die Geschichte von Kalem Ryshad erzählt, der nach dem Tod seines Vaters in die Fänge von Mubaraks Schergen gerät und vor die Wahl gestellt wird, gefoltert zu werden oder selbst zum Folterknecht zu werden. Erst zum Finale hin laufen die beiden Erzählstränge zusammen und präsentieren ein überraschendes Ende.

Die Schwächen des Romans

Grundsätzlich bietet „Gefährlicher Frühling“ eine sehr viel bessere Story als jede beliebige Krimiserie und die meisten Blockbuster. Die einzelnen Kapitel der verschiedenen Handlungsstränge sind etwas knapp gehalten, sodass der Leser gedanklich häufig hin und her springen muss, was es schwierig macht, das Buch an einem Wochenende in einem Zug zu lesen. Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang auch eine knappe Zusammenfassung über die Ereignisse während des Arabischen Frühlings, insbesondere in Ägypten. Die Autorin setzt beim Leser Hintergrundwissen voraus, welches auch ein politisch interessierter Leser aufgrund des zeitlichen Abstandes nicht vollständig haben kann.

Darüber hinaus führt die Autorin zu viele Figuren im Umfeld der Protagonistin ein, die dann keine Rolle mehr für den Fortgang der Handlung spielen. Ebenso wie die Hauptcharaktere wirken diese insgesamt eher stereotyp. Das gilt auch für die Kommissarin Charlotte Petzold. Der Leser erfährt einiges über ihr Privatleben und ihr latentes Alkoholproblem, was die Figur aber dennoch nicht lebendiger wirken lässt.

Fazit

Die Story von „Gefährlicher Frühling“ hätte in den Nebenhandlungen noch weiter ausgebaut werden müssen, um der Geschichte mehr Atmosphäre und Tiefe zu geben. Rund 280 Seiten sind zu knapp, um eine Geschichte mit Verknüpfungen zu weltpolitischen Ereignissen so zu konstruieren, dass sie dem anspruchsvollen Leser gerecht wird.

Sophie Sumburane, Gefährlicher Frühling
Pendragon Verlag, 1. Auflage 2014
Link zu Amazon: http://amzn.to/1l5piKU
Link zur Autorin: www.sophie-sumburane.de

Autor: Harry Sochor

Rezension: Michail Oscharow, Der große Argisch. Oder: Das literarische Zeugnis einer sterbenden Kultur

Gern wird Michail Oscharows Werk „Der große Argisch“ mit Shakespeares „Romeo und Julia“ verglichen. Der sibirische Autor erzählt eine tragische Liebesgeschichte in der von Tradition und Patriarchat geprägten Welt der Ewenken, einem ursprünglich nomadisch lebenden Volk Sibiriens. Dieser Vergleich ist wohl zu hoch gegriffen, jedoch darf „Der große Argisch“ als Nationalepos der Ewenken gelten.

Quelle: Edition Liaunigg
Quelle: Edition Liaunigg

Die Geschichte

„Der große Argisch“ erzählt die Geschichte der tragischen Liebe von Mikpantscha und seiner Schwägerin Schiktolok, die unter den Launen ihres tyrannischen Mannes Amurtscha leidet. Das junge Paar hatte keine Chance auf eine gemeinsame Zukunft, da ihre Ehe gemäß der Tradition von den Vätern – reichen Clanführern – arrangiert worden war. Moloschk hatte die Ehe für seinen ältesten Sohn arrangiert. Nach dem Tod des Vaters übernimmt Amurtscha die Führung des Clans. Er wird jedoch aufgrund seines Jähzorns mehr gefürchtet als respektiert. Zudem fühlt er seine Autorität durch den jüngeren Mikpantscha, der als stärker und klüger gilt, untergraben. Diese unglückselige Konstellation muss fast zwangsläufig in einer Katastrophe endet, als Schiktolok nach einer erneuten Eskalation in den Wald flüchtet und sich Mikpantscha auf die Suche nach ihr macht.

Legenden und Traditionen

Michael Oscharow gilt als Kenner der sibirischen Urvölker und ihrer Lebensweise. Er hat die Mythen und Legenden der Ewenken gesammelt und diese in sein Werk einfließen lassen, was die Protagonisten und ihre kleine Welt plastischer macht und lebendiger erscheinen lässt. Der Autor bettet die Geschichte in keinen zeitlichen Rahmen, was sie zunächst zeitlos erscheinen lässt. Jedoch deutet er immer wieder subtil an, dass sich große Veränderungen anbahnen.

Diese hatten zum Zeitpunkt, als Oscharow den Roman verfasste, bereits begonnen. Unter russischer Herrschaft, vor allem in der stalinistischen Ära, wurden die Nomaden sesshaft gemacht und konnten ihren ursprünglichen Tätigkeiten, also die Jagd, den Fischfang und die Zucht von Rentieren, in staatlichen Kolchosen weiter betreiben. Jedoch scheint auch die Ewenken das Schicksal anderer Ureinwohner zu treffen: Schon gegen Ende des 20. Jahrhunderts konnten nicht einmal mehr die Hälfte der Ewenken ihre ursprüngliche Sprache fließend sprechen. Heute ist der Alltag des einst stolzen Volkes von sozialen Problemen und Arbeitslosigkeit geprägt.

Eine mutige Tat

Indem Michael Oscharow die Mythen und Legenden der sibirischen Ureinwohner sammelte und erzählte, stellte er sich klar gegen die vorherrschende Meinung in der Sowjetunion der 1930er Jahre. Für sein Engagement wurde er wie viele andere Intellektuelle mit dem GULAG bestraft und 1937 hingerichtet. Sein literarisches Werk wäre fast vergessen worden. Eher zufällig stieß der Übersetzer und Herausgeber Erich Liaunigg auf den Text, den er während seines Russischstudiums bei einer Reise nach Irkutsk geschenkt bekam, Jahre später darin las und ins Deutsche übersetzte. „Der große Argisch“ ist als Trigolie angelegt. Der letzte Teil gilt als verschollen, das zweite Fragment wurde noch zu Lebzeiten des Autors veröffentlicht.

Fazit: ein Buch für Liebhaber

„Der Große Argisch“ ist kein Buch für eine breite Leserschaft. Dafür ist das Motiv der tragischen Liebesgeschichte schon zu oft erzählt worden, zumal es dem Werk an wirklich überraschenden Wendungen fehlt. Für Ethnologen stellt es hingegen eine wahre Fundgrube dar. Und auch Western- und Easternfans dürften sicher ihren Spaß beim Lesen haben. Denn stilistisch erinnert „Der große Argisch“ etwas an Jack London mit dem Unterschied, dass Oscharow aus der Perspektive der Ureinwohner erzählt. Insgesamt ist „Der große Argisch“ ein solide erzähltes Stück Unterhaltung. Zu einem vielleicht herausragenden Stück russischer Literatur machen das Buch lediglich die Hintergründe der Entstehungsgeschichte.

Michael Oscharow, Der große Argisch
Edition Liaunigg e.U., Wien

Autor: Harry Sochor

Rezension: Cornelia Lotter, Elstertränen

Elstertränen: sensibel, schockierend, intim… einfach nur gut!

Wer ist eigentlich die Hauptfigur in Cornelia Lotters Krimi „Elstertränen“? Ist es Martin Bender, der die Ermittlungen der Sonderkommission „Elster“ leitet und den Mord an einem kleinen Mädchen aufklären soll, während alle Spuren scheinbar ins Leere laufen? Ist es seine Partnerin Kirsten Stein, die ihn mit ihren oft unorthodoxen Ermittlungsmethoden unterstützt? Oder ist es gar der Unbekannte, der die Mädchenleiche aus der Elster fischt, ihre Blöße mit einem Weißdornzweig bedeckt und schließlich verschwindet?

Bender und Kirsten, kurz Ki genannt, stehen ebenso wie die Beamten der Mordkommission vor einem schier unlösbaren Rätsel: Die kleine Ilka war auf dem Weg zum Spielplatz, hat diesen jedoch nicht erreicht und ist scheinbar spurlos verschwunden, bis ihre Leiche am Elsterufer gefunden wird. Das ist bereits der vierte Mord an einem kleinen Mädchen in Leipzig und Umgebung. Das Mädchen wurde sexuell missbraucht und starb vermutlich an einer Überdosis K.-o.-Tropfen.

… doch der Unbekannte schweigt

Der unbekannte Finder der Leiche gibt sich zunächst nicht zu erkennen. Er hat Angst, als Täter abgestempelt zu werden, weil er selbst pädophil veranlagt ist, jedoch immer verzweifelter gegen seine Neigungen ankämpft. Dass er schließlich doch mit der Polizei zusammenarbeitet, ist lediglich einem Zufall zu verdanken: Er ist beim selben Therapeuten in Behandlung wie Ki, die einige unschöne Kapitel aus ihrer Vergangenheit aufarbeiten möchte und sich von Martin sehnlichst ein Kind wünscht. Schließlich gelingt es diesem ungleichen Trio, einen Pädophilen-Ring zu sprengen, der Kinderpornos produziert und in der Szene verbreitet.

Einfühlsam und trotzdem temporeich

Die Story von „Elstertränen“ ist in mehrfacher Hinsicht ein Wettlauf gegen die Zeit: Martin Bender will den Täter fassen, ehe noch weitere Morde passieren oder sich die wenigen Spuren endgültig im Nichts verlieren. Ki spürt ihre biologische Uhr in rasantem Tempo ticken und hat ihre eigene Vergangenheit – vor allem eine Abtreibung – noch nicht richtig aufgearbeitet. Und der Unbekannte schließlich fürchtet, dass er irgendwann seinen unterdrückten Neigungen nachgehen könnte. Erst recht, als eine neue Nachbarin im Mietshaus einzieht, deren Tochter genau in dem Alter ist, das zu seinem Beuteschema passt.

Das Tempo macht Cornelia Lotter mit kurzen Kapiteln und raschen Szenewechseln, die stilistisch etwas an die Arbeitsweise des Regisseurs Quentin Tarrantino erinnern. Trotzdem nimmt sie sich die Zeit, um die Protagonisten tiefgründig zu charakterisieren. Darüber hinaus geht sie das Thema Pädophilie äußerst sensibel an.

Trotz des direkten Einstiegs in die Thematik verzichtet die Autorin auf jegliche Effekthascherei und darauf, die betreffenden Szenen unnötig auszumalen. Durch ihre einfühlsame Charakteristik des Unbekannten macht sie deutlich, dass pädophil veranlagte Menschen nicht zwangsläufig Täter oder Monster werden müssen, sondern sich unter Umständen selbst in einer Opferrolle befinden.

Cornelia Lotter wagt mit der Thematik einen äußerst schwierigen Spagat, den sie mit Bravour meistert. Sie verpackt die schwierige Thematik in eine spannende und gut erzählte Geschichte. Mögen ihre Leser dazu animiert werden, genauer hinzuschauen, wenn in seiner eigenen Nachbarschaft etwas seltsam erscheint.

Cornelia Lotter, Elstertränen – Ki und die verlorenen Kinder.
Ein Krimi um Privatdetektivin Kirsten Stein
Link zu Amazon: http://amzn.to/1swoZM2

Autor: Harry Sochor

Rezension: Owen Matthews, Winterkinder – ein intimes Stück Zeitgeschichte

Was ist Owen Matthews‘ Roman „Winterkinder“? Ein historischer Roman? Eine Familiensaga? Ein Stück persönlicher Vergangenheitsbewältigung? Vermutlich eine gut gelungene Mischung aus allen dreien. Der Autor begibt sich in „Winterkinder“ auf eine Spurensuche in die eigene Vergangenheit und erzählt die Geschichte der verzweifelten Liebe seiner Eltern, eingebettet in die politische Weltlage und den Alltag in der Sowjetunion während des Kalten Krieges.

Quelle: Ullstein Buchverlage
Quelle: Ullstein Buchverlage

Die Geschichte beginnt mit der Verhaftung seines Großvaters Boris Bibikow an einem Mittsommertag des Jahres 1937. Der glühende Sozialist hatte nach der sozialistischen Revolution eine steile Karriere gemacht und es bis zum Leiter einer Traktorenfabrik gebracht. Hochmotiviert war es ihm gelungen, mit seinen Arbeitern die Fabrik in Rekordzeit aus dem Boden zu stampfen und das Soll des ersten Fünfjahresplans zu erfüllen. Doch dann wird Boris Bibikow zum Opfer der stalinistischen Säuberungswelle. Seine Familie, die zuvor bescheidene Privilegien genossen hatte, stürzt ins Elend. Die Töchter Mila und Lenina erleben eine Odyssee durch sowjetische Waisenhäuser.

Als Erwachsene hat sich Mila weitgehend mit dem System arrangiert, bewegt sich jedoch in subversiven Kreisen, die das System in Frage stellen. Sie lernt den jungen Briten Mervyn Matthews kennen. Mervyn Matthews ist auf dem besten Weg, eine akademische Karriere in Oxford zu machen und hat ein Stipendium für den Aufenthalt in der Sowjetunion erhalten. Dort bewegt er sich gern am Rande der vom britischen Außenministerium erlaubten Pfade und eckt deshalb mehrfach an. Mervyn widersteht den Anwerbungsversuchen des KGB und verliebt sich in Mila.

Schachfiguren der Weltpolitik

Als die Behörden von dieser Affäre erfahren, muss Mervyn schnellstmöglich ausreisen, während Mila versetzt wird. Doch das junge Paar hat sich geschworen, um seine Liebe zu kämpfen. Mervyn geht in die Medien und setzt alle Hebel in Bewegung, um für Mila die Ausreiseerlaubnis zu erwirken. Er zahlt jedoch einen hohen Preis, weil er darüber seine akademische Karriere komplett vernachlässigt, die Stellung in Oxford verliert und an eine drittklassige Universität versetzt wird.

Schließlich gelingt es ihm, die Ausreise Milas zum Teil eines Agentenaustausches zu machen und das junge Paar kommt nach Jahren der Trennung endlich zusammen. Doch Mila hat in der Fremde zunächst Schwierigkeiten, sich anzupassen. Zunehmend entfremdet sich das Paar, und sowohl Mila als auch Merwyn wird klar, dass sie in erster Linie nur der schier unmögliche Kampf gegen übermächtige Gegner zusammengeschweißt hat.

Moskau, Bolschoi-Theater. Quelle: Postkartenarchiv Plaisier
Moskau, Bolschoi-Theater. Quelle: Postkartenarchiv Plaisier

Owen Matthews schildert einfühlsam und fesselnd das Schicksal zweier Menschen, deren Leben von den Interessen der großen Politik massiv beeinflusst und fast zerstört wird. Er verzichtet dabei auf eine moralische Wertung, sondern stützt seine Geschichte auf Archivmaterial. Gerade durch diese nüchterne Darstellung wird die Perversion der Machtverhältnisse in der früheren Sowjetunion offensichtlich. Phasenweise erinnern die radikalen Kurswechsel der Machthaber an Passagen aus Orson Welles‘ „1984“, der ebenfalls den Kalten Krieg als Ausgangspunkt für seine Dystopie gewählt hatte. Unsympathisch wirken eher die Vertreter des britischen Polit-Establishments, die sich über Jahre hinweg weigern, dem verzweifelten Paar zu helfen, um nur ja das fragile Verhältnis zwischen Ost und West nicht zu gefährden.

Owen Matthews hat angesichts der aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ein Werk von fast erschreckender Aktualität geschaffen. Vor allem Lesern der Generation, die den Mauerfall miterlebt hat, dürften so manche Szenen aus „Winterkinder“ vertraut erscheinen.

Owen Matthews, Winterkinder
Graf Verlag, 2014

Autor: Harry Sochor

Rezension: Bruno Jaschke, Im Arsch daheim – ein tierisches Vergnügen

Wer bösen, trockenen und schwarzen Humor mag, wird „Im Arsch daheim“ von Bruno Jaschke lieben. Der Wiener Schriftsteller und Journalist fordert zwar die Konzentration des Lesers ordentlich, aber wenn man erst einmal in den Kosmos der Hauptfigur eingetaucht ist, will man das Buch kaum noch weglegen.

Jaschke, der in der Wiener Literaturszene als Satiriker bekannt ist, dessen Werke vor Sarkasmus nur so triefen, schildert in „Im Arsch daheim“ einen Ausschnitt aus dem Leben eines bösen Menschen. In seinem Kosmos leben beispielsweise die frisurheikle Nachbarin, die von den Alimenten ihres Exmannes lebt und mit ihrer Freundin Gerda einen inoffiziellen Wettbewerb am Laufen hat, wer aktuell den besseren und leistungsfähigeren Bettgefährten an der Angel hat. Jaschke erzählt ein Jahr in Form von 366 Episoden, die als Kurz- und Kürzestgeschichten ebenso funktionieren wie als Erzählung, deren Handlungsstrang sich aus den nur locker miteinander zusammenhängenden Episoden ergibt.

Ein Hundebesitzer macht seltsame Sachen

Der Protagonist besitzt einen bösen Hund, von dem er im Lauf des Jahres eine ganze Serie von Tierportraits anfertigt. Den Hund hat er eigentlich nur zufällig, denn er war beim Spazierengehen einem Hund mit Migrationshintergrund begegnet, den er mit einem Stock vertreiben wollte. Der Hund mit Migrationshintergrund fasste das jedoch als Aufforderung zum Spiel auf, wich fortan nicht mehr von der Seite des bösen Menschen, passte sich an und wurde zum bösen Hund. In den folgenden Monaten sollte der böse Hund seinem Herrchen allerdings gute Dienste bei dessen Lieblingsbeschäftigung leisten: seine Umwelt zu trietzen. Er richtet den Hund darauf ab, autobiographische Schriftsteller aufzustöbern und diese beim Gassigehen anzupinkeln.

Das Lieblingsopfer des bösen Menschen ist der Alleinerziehende, der im selben Haus lebt. Auch die Liebschaften des bösen Menschen haben es nicht einfach. Mit schöner Regelmäßigkeit stößt er beispielsweise seine Hauptliebschaft, die 100-Kilo-Frau, vor den Kopf, nur um hinterher ganze Tage damit zuzubringen, sich wieder bei ihr einzuschmeicheln. Eine weitere Figur, die immer wieder durch das Buch geistert, ist der Wirtschaftskammerfunktionär Oktavian Laroche, der hinter alles und jedem eine rote Verschwörung wittert. Und dann ist da noch der Förster, der regelmäßig seine Frau schlägt und sich das Schweigen der Ärzte und des Personals im Krankenhaus mit satten Trinkgeldern erkauft, wenn er zu fest zugeschlagen hat. Das geht so lange gut, bis ein neuer, unbestechlicher Arzt im Dienst ist…

Fazit: Eine bitterböse Satire

Bruno Jaschke gelingt es, die schlechten Eigenschaften der Menschen so zu präsentieren, dass sie komisch wirken. Trotz ihrer menschlichen Abgründe wirken die Protagonisten charmant, fast liebenswert. Auch wenn es laut Jaschke nicht in seiner Absicht lag, darf „Im Arsch daheim“ durchaus als gesellschafts- und medienkritisch gesehen werden. So beschreibt er beispielsweise, wie ein landesweiter Medienhype entsteht, nur weil der böse Mensch durch das Treppenhaus gelaufen war und dabei lautstark gerufen hatte, dass die deutsche Bundeskanzlerin die Intendanz am Burgtheater übernehmen werde. Das wiederum teilt der Alleinerziehende einem befreundeten Kulturredakteur mit, der daraus einen Aufmacher strickt und sich auf eine zuverlässige Quelle beruft. Nachdem die Nachricht landesweit erschienen ist, gibt es erwartungsgemäß ein Dementi aus dem Bundeskanzleramt und die deutsch-österreichischen Beziehungen kühlen ab. Köstlich!

Jaschke schreibt aus dem, aber nicht für das Wiener Milieu. Er nutzt konsequent Ausdrücke, die lediglich im Großraum Wien bekannt sind und unterstreicht damit den Typus des grantelnden Österreichers. In dieser Hinsicht lässt sich „Im Arsch daheim“ durchaus mit Ludwig Thomas´ Lausbubengeschichten vergleichen. Dass der Autor gelegentlich aus seiner eigenen Perspektive schreibt und den Leser direkt anspricht, mag Anfangs etwas verwirrend sein, trägt aber insgesamt sehr gut zu einer gelungenen Melange des schwarzen Humors bei.

Bruno Jaschke, Im Arsch daheim
AROVELL Verlag, 1. Auflage 2014
Link zu Amazon: http://amzn.to/1jGMrke

Autor: Harry Sochor

Rezension: Christian Schwetz, mails & love – ein wienerisch-verwirrendes Lesevergnügen

Quelle: ARAVELL Verlag / Covergestaltung: Paul Jaeg

Auf ein spannendes Abenteuer hat sich der österreichische Autor Christian Schwetz, der sich nach einigen literarischen Ausflügen in den 1980er Jahren für den Beruf des Steuerberaters entschieden hat und erst seit 2008 publiziert, mit seinem Roman „mails & love“ eingelassen: Er setzt mit seinem E-Mail-Roman die Tradition des Briefromans mit modernen Mitteln fort. Dabei entführt er den Leser in die chaotisch-verwirrende Gedankenwelt des frisch getrennten Protagonisten F.

F. steckt nach seiner Scheidung in der schwierigen Phase der Neuorientierung, weil ihn Broterwerb, die Halbzeitvaterschaft und seine ersten literarischen Erfolge nicht wirklich erfüllen. Er verliebt sich in schneller Folge, teilweise sogar gleichzeitig, in verschiedene Frauen, bis er die eine trifft, die scheinbar zu ihm passen könnte. Allerdings sucht F. nicht wirklich nach einer neuen Beziehung, sondern genießt vielmehr das rasch wiederkehrende Gefühl des Verliebtseins, welches schnell wieder abflaut.

Christian Schwetz erzählt die Geschichte in Form von E-Mails, die er an eine zunächst mysteriöse M. schickt. Wer hinter dieser Abkürzung steckt, erfährt der Leser erst im Verlauf des Romans. Ergänzt wird der E-Mail-Verkehr durch Gedankensplitter, Ereignisse, die F. widerfahren, und Lyrik. Die einzelnen Textpassagen sind kurz und oft nicht zusammenhängend, was den Leser förmlich dazu aufruft, das Buch nach dem fortlaufenden Durchgang erneut in die Hand zu nehmen und einzelne Passagen mehrfach oder nur Teile dieses kaleidoskopartigen Romans zu lesen.

Experiment geglückt?

Weil die Handlung nicht fortlaufend, sondern nur facettenhaft erzählt wird, verlangt Christian Schwetz ein hohes Maß an Konzentration vom Leser. Insofern hat er mit seinem dritten Werk nach dem Kurzgeschichtenband „Zwischen Brot und Spiel“ sowie dem Roman „Traanbecks Ausnahmezustand“ eine interessante Herausforderung geschaffen.

Allerdings, und das ist der Wermutstropfen im Lesevergnügen, grenzt Schwetz, der eine gelungene Wortakrobatik betreibt, die Leserschaft im deutschsprachigen Raum sehr stark ein. Dass die lyrischen Elemente in „mails & love“ auf Wienerisch geschrieben sind, mag der Leser außerhalb des österreichisch-bayerischen Sprachraums noch verzeihen. Allerdings verwendet Schwetz ohne nähere Erklärung Wiener Lokalkolorit, der so manchen Leser verschrecken könnte. Beispielsweise spricht er von einer Lesung in der VHS Favoriten und meint damit die Bildungseinrichtung im zehnten Wiener Stadtbezirk. Dieses Hintergrundwissen kann Schwetz jedoch von einem Nicht-Wiener nicht erwarten – erst recht nicht von einem Nicht-Österreicher.

Christian Schwetz, mails & love
AROVELL Verlag, 1. Auflage Januar 2014
Link zu Amazon: http://amzn.to/1rzKoOz

Autor: Harry Sochor
www.wildere-welten.de

Rezension: Diagnose Mord – fürwahr ein mörderisches Vergnügen

Pünktlich zur jüngsten Leipziger Buchmesse hat der Zwickauer Buchvolk-Verlag seinen neuesten Streich auf den Markt gebracht: Für „Diagnose Mord“ haben die beiden Herausgeberinnen Nessa Altura und Dr. med. Ulrike Blatter eine Reihe hochkarätiger Autoren aus dem deutschsprachigen Raum um sich geschart, die sich in ihren Kurzgeschichten der dunklen Seite der Medizin widmen.

Von Jack the Ripper bis zur Klontechnik

Diagnose MordDie Autoren, darunter Trägerinnen und Träger renommierter Auszeichnungen, beleuchten die Themen Kriminalität und Medizin aus den verschiedensten Blickwinkeln. Die Bandbreite der Motive reicht von Racheaktionen für tatsächlich oder vermeintlich verpfuschte Operationen bis hin zu reiner Neugierde oder der perversen Lust am Töten. Besonders eindrucksvoll bleibt beim Lesen Wolfgang Schülers „Der Aufschlitzer“ im Gedächtnis haften. Der Autor greift das Thema Jack the Ripper, jenes legendären Prostituiertenmörders im viktorianischen England, auf. Es gelingt ihm, die Geschichte – obwohl schon vielfach erzählt – kurzweilig zu präsentieren und in die Storyline gleich mehrere überraschende Wendungen einzubauen.

Genau diese überraschenden Wendungen sind das absolute Markenzeichen der 18 Autoren. Denn in jeder Geschichte gibt es eine davon – sei es bezüglich des Täters oder seines Motivs –, die das Gelesene in einem komplett neuen Licht erscheinen lässt. Teilweise sorgen die Storys für Gänsehaut, teilweise zaubern sie ein Schmunzeln auf das Gesicht des Lesers. Dieses gefriert jedoch schnell, sobald das Essay von Dr. med. Ulrike Blatter, welches jede Geschichte begleitet, erreicht ist. Die Co-Herausgeberin streut darin Informationen aus dem Medizinbetrieb sowie der Kriminalistik ein oder beleuchtet das Thema der Geschichte aus einem anderen Blickwinkel. Dabei wird dem Leser klar: Selbst wenn die Geschichte den hintersten Winkeln der Fantasie entsprungen ist, bewegt sich der Autor näher an der Realität als dem Leser lieb sein kann.

Eine gut servierte Geschmackssache

Inhaltlich sind die einzelnen Geschichten sicher reine Geschmackssache, was angesichts der thematischen und stilistischen Vielfalt nicht ausbleibt. Doch die Figuren, vom perversen Professor, der mit menschlichen Klonen experimentiert, bis hin zur Giftmörderin, die ihre Liebhaber vergiftet, ausstopft und konserviert, entführen den Leser in ihre Welt und ihr Denken und bergen allemal spannenden Stoff zur Unterhaltung. Gut erzählt und handwerklich gut geschrieben sind sowohl die Storys als auch die Essays.

Fazit:

Mit „Diagnose Mord“ hat der Buchvolk-Verlag eine ganz besondere Perle der Kriminalliteratur in seinem Programm. Die Herausgeber und Autoren beweisen: Der Krimi lebt und bleibt spannend – erst recht abseits der ausgetretenen Pfade von Tatort, Agatha Christie oder Sir Arthur Conan Doyle. Den Vergleich mit den Größen des Genres braucht jedenfalls keiner der an „Diagnose Mord“ beteiligten Autoren zu scheuen.

Nessa Altura / Ulrike Blatter (Hrsg.), Diagnose Mord
Buchvolk-Verlag Zwickau, 1. Auflage 2014

Autor: Harry Sochor, www.wildere-welten.de