Rezension: Owen Matthews, Winterkinder – ein intimes Stück Zeitgeschichte

Was ist Owen Matthews‘ Roman „Winterkinder“? Ein historischer Roman? Eine Familiensaga? Ein Stück persönlicher Vergangenheitsbewältigung? Vermutlich eine gut gelungene Mischung aus allen dreien. Der Autor begibt sich in „Winterkinder“ auf eine Spurensuche in die eigene Vergangenheit und erzählt die Geschichte der verzweifelten Liebe seiner Eltern, eingebettet in die politische Weltlage und den Alltag in der Sowjetunion während des Kalten Krieges.

Quelle: Ullstein Buchverlage
Quelle: Ullstein Buchverlage

Die Geschichte beginnt mit der Verhaftung seines Großvaters Boris Bibikow an einem Mittsommertag des Jahres 1937. Der glühende Sozialist hatte nach der sozialistischen Revolution eine steile Karriere gemacht und es bis zum Leiter einer Traktorenfabrik gebracht. Hochmotiviert war es ihm gelungen, mit seinen Arbeitern die Fabrik in Rekordzeit aus dem Boden zu stampfen und das Soll des ersten Fünfjahresplans zu erfüllen. Doch dann wird Boris Bibikow zum Opfer der stalinistischen Säuberungswelle. Seine Familie, die zuvor bescheidene Privilegien genossen hatte, stürzt ins Elend. Die Töchter Mila und Lenina erleben eine Odyssee durch sowjetische Waisenhäuser.

Als Erwachsene hat sich Mila weitgehend mit dem System arrangiert, bewegt sich jedoch in subversiven Kreisen, die das System in Frage stellen. Sie lernt den jungen Briten Mervyn Matthews kennen. Mervyn Matthews ist auf dem besten Weg, eine akademische Karriere in Oxford zu machen und hat ein Stipendium für den Aufenthalt in der Sowjetunion erhalten. Dort bewegt er sich gern am Rande der vom britischen Außenministerium erlaubten Pfade und eckt deshalb mehrfach an. Mervyn widersteht den Anwerbungsversuchen des KGB und verliebt sich in Mila.

Schachfiguren der Weltpolitik

Als die Behörden von dieser Affäre erfahren, muss Mervyn schnellstmöglich ausreisen, während Mila versetzt wird. Doch das junge Paar hat sich geschworen, um seine Liebe zu kämpfen. Mervyn geht in die Medien und setzt alle Hebel in Bewegung, um für Mila die Ausreiseerlaubnis zu erwirken. Er zahlt jedoch einen hohen Preis, weil er darüber seine akademische Karriere komplett vernachlässigt, die Stellung in Oxford verliert und an eine drittklassige Universität versetzt wird.

Schließlich gelingt es ihm, die Ausreise Milas zum Teil eines Agentenaustausches zu machen und das junge Paar kommt nach Jahren der Trennung endlich zusammen. Doch Mila hat in der Fremde zunächst Schwierigkeiten, sich anzupassen. Zunehmend entfremdet sich das Paar, und sowohl Mila als auch Merwyn wird klar, dass sie in erster Linie nur der schier unmögliche Kampf gegen übermächtige Gegner zusammengeschweißt hat.

Moskau, Bolschoi-Theater. Quelle: Postkartenarchiv Plaisier
Moskau, Bolschoi-Theater. Quelle: Postkartenarchiv Plaisier

Owen Matthews schildert einfühlsam und fesselnd das Schicksal zweier Menschen, deren Leben von den Interessen der großen Politik massiv beeinflusst und fast zerstört wird. Er verzichtet dabei auf eine moralische Wertung, sondern stützt seine Geschichte auf Archivmaterial. Gerade durch diese nüchterne Darstellung wird die Perversion der Machtverhältnisse in der früheren Sowjetunion offensichtlich. Phasenweise erinnern die radikalen Kurswechsel der Machthaber an Passagen aus Orson Welles‘ „1984“, der ebenfalls den Kalten Krieg als Ausgangspunkt für seine Dystopie gewählt hatte. Unsympathisch wirken eher die Vertreter des britischen Polit-Establishments, die sich über Jahre hinweg weigern, dem verzweifelten Paar zu helfen, um nur ja das fragile Verhältnis zwischen Ost und West nicht zu gefährden.

Owen Matthews hat angesichts der aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ein Werk von fast erschreckender Aktualität geschaffen. Vor allem Lesern der Generation, die den Mauerfall miterlebt hat, dürften so manche Szenen aus „Winterkinder“ vertraut erscheinen.

Owen Matthews, Winterkinder
Graf Verlag, 2014

Autor: Harry Sochor