Rezension: Michail Oscharow, Der große Argisch. Oder: Das literarische Zeugnis einer sterbenden Kultur

Gern wird Michail Oscharows Werk „Der große Argisch“ mit Shakespeares „Romeo und Julia“ verglichen. Der sibirische Autor erzählt eine tragische Liebesgeschichte in der von Tradition und Patriarchat geprägten Welt der Ewenken, einem ursprünglich nomadisch lebenden Volk Sibiriens. Dieser Vergleich ist wohl zu hoch gegriffen, jedoch darf „Der große Argisch“ als Nationalepos der Ewenken gelten.

Quelle: Edition Liaunigg
Quelle: Edition Liaunigg

Die Geschichte

„Der große Argisch“ erzählt die Geschichte der tragischen Liebe von Mikpantscha und seiner Schwägerin Schiktolok, die unter den Launen ihres tyrannischen Mannes Amurtscha leidet. Das junge Paar hatte keine Chance auf eine gemeinsame Zukunft, da ihre Ehe gemäß der Tradition von den Vätern – reichen Clanführern – arrangiert worden war. Moloschk hatte die Ehe für seinen ältesten Sohn arrangiert. Nach dem Tod des Vaters übernimmt Amurtscha die Führung des Clans. Er wird jedoch aufgrund seines Jähzorns mehr gefürchtet als respektiert. Zudem fühlt er seine Autorität durch den jüngeren Mikpantscha, der als stärker und klüger gilt, untergraben. Diese unglückselige Konstellation muss fast zwangsläufig in einer Katastrophe endet, als Schiktolok nach einer erneuten Eskalation in den Wald flüchtet und sich Mikpantscha auf die Suche nach ihr macht.

Legenden und Traditionen

Michael Oscharow gilt als Kenner der sibirischen Urvölker und ihrer Lebensweise. Er hat die Mythen und Legenden der Ewenken gesammelt und diese in sein Werk einfließen lassen, was die Protagonisten und ihre kleine Welt plastischer macht und lebendiger erscheinen lässt. Der Autor bettet die Geschichte in keinen zeitlichen Rahmen, was sie zunächst zeitlos erscheinen lässt. Jedoch deutet er immer wieder subtil an, dass sich große Veränderungen anbahnen.

Diese hatten zum Zeitpunkt, als Oscharow den Roman verfasste, bereits begonnen. Unter russischer Herrschaft, vor allem in der stalinistischen Ära, wurden die Nomaden sesshaft gemacht und konnten ihren ursprünglichen Tätigkeiten, also die Jagd, den Fischfang und die Zucht von Rentieren, in staatlichen Kolchosen weiter betreiben. Jedoch scheint auch die Ewenken das Schicksal anderer Ureinwohner zu treffen: Schon gegen Ende des 20. Jahrhunderts konnten nicht einmal mehr die Hälfte der Ewenken ihre ursprüngliche Sprache fließend sprechen. Heute ist der Alltag des einst stolzen Volkes von sozialen Problemen und Arbeitslosigkeit geprägt.

Eine mutige Tat

Indem Michael Oscharow die Mythen und Legenden der sibirischen Ureinwohner sammelte und erzählte, stellte er sich klar gegen die vorherrschende Meinung in der Sowjetunion der 1930er Jahre. Für sein Engagement wurde er wie viele andere Intellektuelle mit dem GULAG bestraft und 1937 hingerichtet. Sein literarisches Werk wäre fast vergessen worden. Eher zufällig stieß der Übersetzer und Herausgeber Erich Liaunigg auf den Text, den er während seines Russischstudiums bei einer Reise nach Irkutsk geschenkt bekam, Jahre später darin las und ins Deutsche übersetzte. „Der große Argisch“ ist als Trigolie angelegt. Der letzte Teil gilt als verschollen, das zweite Fragment wurde noch zu Lebzeiten des Autors veröffentlicht.

Fazit: ein Buch für Liebhaber

„Der Große Argisch“ ist kein Buch für eine breite Leserschaft. Dafür ist das Motiv der tragischen Liebesgeschichte schon zu oft erzählt worden, zumal es dem Werk an wirklich überraschenden Wendungen fehlt. Für Ethnologen stellt es hingegen eine wahre Fundgrube dar. Und auch Western- und Easternfans dürften sicher ihren Spaß beim Lesen haben. Denn stilistisch erinnert „Der große Argisch“ etwas an Jack London mit dem Unterschied, dass Oscharow aus der Perspektive der Ureinwohner erzählt. Insgesamt ist „Der große Argisch“ ein solide erzähltes Stück Unterhaltung. Zu einem vielleicht herausragenden Stück russischer Literatur machen das Buch lediglich die Hintergründe der Entstehungsgeschichte.

Michael Oscharow, Der große Argisch
Edition Liaunigg e.U., Wien

Autor: Harry Sochor