Rezension: Verena Boos, Blutorangen

Können Menschen, die sich gerade erst begegnet sind, schon eine gemeinsame Geschichte haben? Ja, das können sie – zumindest in der Geschichte von Verena Boos, die den Leser mitnimmt durch drei Leben, den zweiten Weltkrieg und die Franco-Diktatur in Spanien und gleichzeitig die Aufarbeitung dieser Ereignisse betreibt, die allzu oft nur aus Verdrängung besteht.

Quelle: www.aufbau-verlag.de
Quelle: www.aufbau-verlag.de

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold?
Das Auslandssemester in München ist für die junge Spanierin Maite, die eigentlich Maria Teresa heißt, anfangs nur eine Möglichkeit, ihrem strengen katholischen Elternhaus zu entfliehen. Doch in München verliebt sie sich in Carlos, der einen spanischen Vater hat, und lernt dessen Großvater Antonio kennen. Durch Zufall entdeckt sie, dass ihr Vater einst in der deutschen Wehrmacht war – und beginnt zu recherchieren. In langen Gesprächen mit Antonio werden Zahlen und Fakten zu Menschen, Verfolgten und Verfolgern, Zivilisten und Soldaten, die alle im zweiten Weltkrieg, in der Ära Franco und oft noch darüber hinaus an den Traumata litten, die diese Zeit hinterlassen hatte. Doch es herrscht fast einmütig die Übereinkunft zwischen Tätern und Opfern, dass totgeschwiegen wird, was nicht gewesen sein darf. Und so verweben sich die Erinnerungen von Antonio und jene von Maites Vater zu einem Bild der damaligen Zeit, auch wenn Maite davon nur einen Bruchteil erfährt. Höhepunkt ist die archäologische Bergung von sieben Toten in Antonios ehemaligen Dorf in Spanien, bei der dieser in Begleitung seiner Familie – Carlos und Maite, die mittlerweile verheiratet sind, sowie der Schwiegertochter Margot – zugegen ist. Hier ist Schweigen und Verdrängen plötzlich nicht mehr so einfach…

Drei Leben, eine Geschichte
Verena Boos erzählt ihre Geschichte nicht auf eine einfache, simple Art, die es leicht macht, ihr zu folgen. Ganz im Gegenteil, es wird zwischen drei verschiedenen Sichtweisen und Erlebnishorizonten der Protagonisten und drei verschiedenen Zeitebenen gewechselt, was anfangs verwirrt. Doch wer sich als Leser auf diese Art des Erzählens einlässt, für den entsteht bald ein lebendiges Bild der Charaktere. Gerade die unterschiedlichen Sichtweisen und Blickwinkel auf das Geschehen vermitteln ein Gefühl für die Figuren und lassen miterleben, wie die Welt für sie sein muss – und welche Beweggründe es für ihre Taten oder ihr Schweigen gibt. Fakten aus dem Geschichtsunterricht erhalten so ein Gesicht, einen Namen und vielleicht auch Verständnis dafür, warum sich die Menschen damals für oder gegen ein bestimmtes System entschieden. Für jene, denen die Fakten hier zugunsten der Erzählung zu kurz kommen, gibt die Autorin am Ende des Buches Quellen zur Geschichte des spanischen Faschismus an.

Mein Fazit
„Blutorangen“ bereichert die oft schon reichlich abgenutzte Weltkriegsliteratur. Die unkonventionelle und gleichzeitig virtuose Erzählweise von Verena Boos nimmt den, der sich darauf einlässt, mit zur Geschichte hinter der Geschichte, zu den Menschen – und zu den eigenen Fragen, die man den Eltern oder Großeltern als Zeitzeugen nie stellen konnte oder durfte. Denn Schweigen ist nicht nur in Spanien Gold.

Verena Boos, Blutorangen
Aufbau Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Blutorangen-9783351035945
Autor der Rezension: Harry Pfliegl