Rezension: Kenzaburō Ōe, Licht scheint auf mein Dach

Bereits 1995 und 1996 publizierte Kenzaburō Ōe zwei Bücher mit Essays über das Leben seiner Familie, das durch die Behinderung seines ältesten Sohnes geprägt ist. Obwohl seitdem beinahe 20 Jahre vergangen sind, übermittelt die neue Zusammenstellung seiner Essays durch Nora Bierich eine Form des familiären Miteinanders und Zusammenhalts, die heute noch gültig ist.

Ein Nobelpreisträger und Vater

Ōe, geboren 1935 auf Shikoku/Japan, verfasste bereits während seines Studiums der Romanistik in Tokyo mehrere Theaterstücke und schrieb für die Fakultätszeitung, wofür er den Ichō-Namiki-Preis erhielt. Viele Auszeichnungen inklusive der Ehrung mit dem Nobelpreis für Literatur 1994 später kann er auf ein umfangreiches literarisches Werk zurückblicken, das vor allem durch ein privates Ereignis geprägt wird: Die Behinderung seines ältesten Sohnes Hikari. Waren seine Schriften zuvor eher politischen Themen gewidmet, bildet nun die Geschichte seines Sohnes sowohl die Grundlage für den autobiographischen Roman „Eine persönliche Erfahrung“ als auch für viele Figuren, die in seinem späteren Werken auftreten. Kenzaburō Ōe lebt heute mit seiner Familie in Tokyo.

Quelle: www.fischerverlage.de
Quelle: www.fischerverlage.de

Leben mit der Behinderung und der Kunst

Alles beginnt mit einer Geburtstagskarte von Hikari an seine Mutter. Sechsundzwanzig Jahre zuvor kam der älteste Sohn der Familie Ōe mit einer Schädeldeformation auf die Welt. Trotz einer lebensrettenden Operation leidet er unter häufigen epileptischen Anfällen, ist geistig zurückgeblieben. Das Familienleben verläuft nach dem Takt, den die Pflege des Sohnes vorgibt: Arztbesuche, Behindertenwerkstatt, Klavierunterricht, Medikamente. Hikari ist ein stiller junger Mann, der Musik liebt, sich in seiner Musik ausdrückt und trotz seiner Behinderung die Welt genau beobachtet. So drückt die Geburtstagskarte an seine Mutter aus, wie er den langsamen geistigen Verfall seiner Großmutter erlebt – und dies in nur wenigen Worten.

Im Schein dieser Anekdote beginnt Kenzaburō Ōe sein erstes Essay über den Wandel der Jahreszeiten des Lebens. Als Kind war Hikari noch im Vollbesitz seiner physischen Kräfte gewesen, konnte mit seinen Geschwistern herumtoben, bevor er immer mehr von seiner Behinderung eingeholt wurde. Auch Ōe und seine Frau sind sich ihres stetigen Alterns gewiss. Woher schöpfen Menschen im Angesicht von Krankheit und Alter ihren Trost? Hikari bezieht Stärkung aus seiner Liebe zur klassischen Musik und drückt auch seine Gefühle durch Musik aus – ebenso wie sein Vater in seinen Romanen, seine Mutter in ihren Bildern.

Die Krankheit als Essay

Im Mittelpunkt der insgesamt 19 Essays stehen daher vor allem die Ereignisse, in denen sich der Sohn musikalisch verwirklichen kann: In denen er sowohl seine „heulende Seele“ als auch seine Empfindungen zu wichtigen Ereignissen in seinem Leben preisgibt. Genauso werden die Schwierigkeiten des Alltags, Streitereien und unangenehme Situationen geschildert. In einer Mischung aus philosophischem Diskurs und Tagebucheinträgen beschreibt Ōe seinen inneren Konflikt über den Umgang mit der Behinderung seines Sohnes, ohne die Schattenseiten zu kaschieren. Offen schreibt er über sein Zögern, dem lebenswichtigen Eingriff an seinem Sohn kurz nach dessen Geburt zuzustimmen oder die Wut, die ihn angesichts der Hilfsbedürftigkeit seines Sohnes überkommt. Er scheut sich auch nicht, die Kritik anzusprechen, die der Familie entgegenschlägt, als Hikari erste Erfolge als Komponist verzeichnen kann.
In einer ruhigen und gleichzeitig bildhaften Sprache werden die Beziehungen zur Mutter, den Geschwistern und auch den Freunden der Familie vor dem Leser ausgebreitet, wenngleich es nur episodenhafte Einblicke sind.

Mein Fazit

„Licht scheint auf mein Dach“ ist weder eine Biografie noch eine Familiengeschichte, sondern eine Sammlung von Anekdoten und Reflektionen über das Zusammenleben eines Vaters mit seinem behinderten Sohn. Zu Beginn mag man sich an der leicht distanzierten Erzählweise stören, aber gerade das bietet Raum zum Nachdenken, wie man selbst in dieser oder jener Situation reagiert hätte. Die Offenheit Kenzaburō Ōe ist mehr als beeindruckend, frei von Rührseligkeit und Drama. Es ist kein Buch, das man schnell nebenbei lesen kann, und es mag von Vorteil sein, bereits einen Roman des Schriftstellers zu kennen. Am Ende ist Ōe (wieder einmal) ein einfühlsames und nachdenkliches Buch gelungen, dessen neue Übersetzung seiner Sprache gerecht wird und durch die Untermalung mit Yukari Ōes Zeichnungen einen wunderbar persönlichen Eindruck in die Gefühlswelt seiner Familie gibt.

Kenzaburō Ōe, Licht scheint auf mein Dach
S. Fischer Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Licht-scheint-auf-mein-Dach-9783100552174
Autorin: Jasmin Beer