Rezension: Merle Hilbk, Die Chaussee der Enthusiasten. Eine Reise durchs russische Deutschland

„Wenn Sie mich Russe nennen, dann bin ich eben ein Russe“, antwortet mir David, der Vater einer Freundin auf die Frage, wie ich ihn politisch korrekt einordnen soll.

Fakt ist, „russisches“ Leben ist ein Teil unserer deutschen Gesellschaft.

In „Die Chaussee der Enthusiasten. Eine Reise durchs russische Deutschland“, erschienen im Aufbau Verlag, berichtet Merle Hilbk über das Spektrum russischsprachigen Lebens in Deutschland. Ausgehend von der Erstaufnahmeeinrichtung Friedland im Landkreis Göttingen begibt sich Hilbk auf eine Reise, die sie quer durch Deutschland führt. Dabei trifft sie Menschen, die alle aus unterschiedlichen Gründen aus der damaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Sie hört die Hoffnungen der Russlanddeutschen, die auf der Suche nach Heimat sind, trifft russische Intellektuelle mit jüdischen Wurzeln oder feiert auf der angesagten „Datscha Party“ in Hamburg zu russischen Rockbeats. Sie entdeckt eine Welt voller Reichtum in Baden-Baden, wird Zeugin monotoner Plattenbausiedlungen in Berlin-Marzahn und besucht russische Poetry Slams.

In erster Linie erzählt Hilbk Geschichten von Menschen. Gleichzeitig gelingt es ihr, die vielen Facetten des russischen oder besser gesagt russischsprachigen Lebens zu skizzieren, ohne dabei in klischeehafte Erzählungen zu verfallen. Lebhaft wird der Leser Teil ihrer Begegnungen, verfolgt gespannt die Geschichten und Schicksale der einzelnen Protagonisten. Die Autorin karikiert nicht, sie erzählt, mal komisch, mal sachlich und mal traurig. Sie zeigt Mutlose, die sich in eine Blase zurückziehen, aber auch hoffnungsvolle Menschen, die aus fehlender Anerkennung der Mehrheitsgesellschaft kreative Projekte ins Leben rufen und so aktiv zu einem bunten Deutschland beitragen. Hilbk beobachtet. In einer geschmeidigen Art vermittelt sie ganz nebenbei geschichtliche Fakten, die mir so nicht bewusst waren oder die ich schlichtweg nicht wusste.

So wird der Bericht zum vermeintlichen Roman, der sich aus vielen Begegnungen zu einem großen Ganzen zusammensetzt und uns eine Welt näher bringt, die mitten unter uns lebt und atmet.

Merle Hilbk, Die Chaussee der Enthusiasten. Eine Reise durchs russische Deutschland. Aufbau Verlag.

Autor: Ahu Gür
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