Finnische Literatur auf der #lbm15

DFG_liestDie Vielfalt der finnischen Literatur durfte ich im vergangenen Jahr auf der Frankfurter Buchmesse kennenlernen. Besonders gern denke ich an Katja Kettu und  ihren Roman „Wildauge“. Hier bin ich ihr in Leipzig begegnet.

Vielen Dank an die Deutsch-Finnische Gesellschaft Leipzig für die Tipps zu Autorenlesungen, Buchpräsentationen und Gespräche mit finnischer Beteiligung auf der lbm15.

Do 12.3., 15.00 Uhr, Lesebude 2/Halle 2/E304
Salla Simukka, So weiß wie Schnee (Jugendkrimi; Moderation Elina Kritzokat)

Do 12.3., 13.00 Uhr, Nordisches Forum/Halle 4/D300
Die Schriftsteller Margit Walsø und Kjell Westö sowie Sigurđur Ólafsson/Nordischer Rat sprechen über Nordische Literaturpreise (Moderation: Thomas Böhm).

Do 12.3., 15.00 Uhr, Lesecafé Buchkunst und Grafik/Halle 3/G603
Akseli Gallén-Kallela und Berlin. Zu Werk und Wirkung der „Goldenen Ära” der finnischen Kunst. Vortrag von Dr. Sabine Meister und Präsentation duch die Kunsthistorikerin Minna Turtiainen, Gallén-Kallela-Museum

Do 12.3., 15.00 Uhr, Musikcafé/Halle 4/A401
Ist die nordische Musik kühl? Gespräch mit Tomi Mäkelä und Oliver Kersken

Do 12.3., 15.00 Uhr, Nordisches Forum/Halle 4/D300
Kjell Westö, Das Trugbild (Moderation Paul Berf)

Do 12.3., 17.00 Uhr, Musikcafé/Halle 4/A401
Sibelius und Nielsen. Gespräch mit Tomi Mäkelä, John Fellow und Per Erik Veng

Fr 13.3., 13.30 Uhr, Nordisches Forum/Halle 4/D300
Kjell Westö, Das Trugbild (Moderation Paul Berf)

Fr 13.3., 15.00 Uhr, Lesecafé Buchkunst und Grafik/Halle 3/G603
Finnische Künstler in Berlin. Podiumsgespräch mit Dr. Mika Hannula und Niina Lehtonen Braun

Fr 13.3., 15.00 Uhr, Nordisches Forum/Halle 4/D300
Miina Supinen, Drei ist keiner zuviel (Moderation Anke Michler-Janhunen)

Fr 13.3., 19−24 Uhr im Kulturzentrum NaTo, Karl-Liebknecht-Str. 46
Nordische Lesenacht
20.30 Uhr Kjell Westö | 24 Uhr Miina Supinen

Sa 14.3., 12.30 Uhr, Nordisches Forum/Halle 4/D300
Eppu Nuotio, Falsche Farbe (Moderation Petra Sauerzapf-Poser)

Sa 14.3. 14.00 Uhr, Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig
Tommi Musturi, Handbuch der Hoffnung

Sa 14.3., 14.30 Uhr, Nordisches Forum/Halle 4/D300
Juhani Seppovaara, Ansichten eines Lebens (Moderation Matthias Naumann)

Sa 14.3., 19.00 Uhr, Vodkaria, Gottschedstraße 15
Juhani Seppovaara, Ansichten eines Lebens (Moderation Matthias Naumann)

So 15.3., 11.30 Uhr, Leseinsel „Junge Verlage”/Halle 5/D200
Comics aus Finnland: Tommi Musturi und Petteri Tikkanen

So 15.3., 14.00 Uhr, Nordisches Forum/Halle 4/D300
Juhani Seppovaara, Ansichten eines Lebens (Moderation Matthias Naumann)

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 6: Riikka Pulkkinnen, Die Ruhelose. Oder: Das Leichte im Schweren

Der Erstlingsroman der Finnin Riikka Pulkkinnen hat es in sich. Sie spricht Themen an, mit denen ich mich als Leserin nicht gerne beschäftige, wenn ich auf der Suche nach einem unterhaltsamen Roman bin: Tod und Sterben, Sterbehilfe und die herrschende Sexualmoral.

Entscheiden oder zerbrechen

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Da ist Anja, Universitätsprofessorin und eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Ihr Mann ist schwer an Demenz erkrankt und hat ihr bereits vor Jahren das Versprechen abgenommen, ihm eines Tages Sterbehilfe zu leisten. Ein Versprechen, das Anja mehr und mehr belastet und an dem sie zu zerbrechen droht.

Da ist Marie, Schülerin der Oberstufe, die ein Verhältnis mit ihrem Literaturlehrer hat und nicht von ihm lassen kann, obwohl sie ahnt, dass dieses Verhältnis ihr nicht gut tut. Anni, die kleine Tochter des Lehrers, sieht und hört viel mehr, als sie in ihrem Alter eigentlich sollte und Julian, der Lehrer, findet aus dem, was anfänglich eigentlich nur als harmloses Spiel gemeint war, nicht mehr heraus. Immer wieder sucht er nach neuen Rechtfertigungen dafür, warum das Verhältnis mit Marie weitergehen sollte.

Die Figuren im Roman von Riikka Pulkkinnen stehen vor einer schweren Entscheidung oder einer Lebenskrise, und erst ein ungewöhnliches oder dramatisches Ereignis führt zu einer Entscheidung. Fast wähnt man sich als Leserin in einer klassischen Tragödie, in der es ja auch erst zu einer Katastrophe kommt, bevor die Figuren sich weiterentwickeln können oder die Handlungsstränge zusammengeführt werden.

Zusammenfügen, was zusammen gehört

Besonders fasziniert hat mich an diesem Roman, dass die Figuren zunächst nebeneinander her zu laufen scheinen. Erst nach und nach verzahnen sich die Geschichten und Personen miteinander und es entsteht ein großes Bild. Anja, die heimliche Hauptfigur des Romans, ist Maries Tante. Anja begegnet der Tochter Julians begegnet und begräbt mit ihr einen toten Igel in einem kleinen Wäldchen. Das berührt mich.

Mein Fazit

Auch wenn Riikka Pulkkinnen in ihrem Roman also schwere Kost serviert, die man als Leserin erst einmal verdauen muss: Es lohnt sich unbedingt, sich auf diesen finnischen Roman einzulassen. Trotz der angesprochenen Themen kommt die Leichtigkeit in diesem Roman nicht zu kurz und zwischendurch ist Schmunzeln durchaus erlaubt. Dass man sich ganz nebenbei mit ethisch-moralischen Fragen beschäftigt, die auch für die deutsche Gesellschaft relevant sind, ist ein durchaus gewollter Nebeneffekt.

Riikka Pulkkinnen, Die Ruhelose
List Hardcover, 2014
Autorenseite (Finnisch und Englisch): http://riikkapulkkinen.com/teokset
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Ruhelose-9783471350720
Autorin: Yvonne Giebels

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 5: Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden. Oder: Volksseelenwanderung

Liebe Leserinnen und Leser: wohl selten war es so wertvoll, auf meine Meinung einen Dreck zu geben. Denn was jetzt kommt, könnt ihr glauben oder auch nicht. Mit diesem Buch tue ich mich nämlich sehr sehr schwer. Und mit der Besprechung dazu fast noch mehr.

Quelle: www.kiwi-verlag.de
Quelle: www.kiwi-verlag.de

Normalerweise startet man als Rezensent ja vorurteilslos frei ins Lesen eines Romans, oder sollte es zumindest versuchen. Das hier in der Kritik stehende Werk von Sofi Oksanen wurde mir allerdings schon vorab in mehreren TV-Kritikerrunden und noch mehr Feuilletons dermaßen wortgewaltig und tiefschürfend um die Ohren gehauen, dass eine objektive Beschäftigung mit Form oder Inhalt keine realistische Option war. Warum? Weil ich den schärfsten Lästereien über diese Prosa fast uneingeschränkt zustimmen muss. Vom Start weg und in allen Punkten.

Aber Vorsicht! Dieses Buch ist auch ausgesprochen konsequent! In seiner Diktion. In seinem Impetus. Und ja, auch in seiner ganz eigenen Wahrhaftigkeit. Und eben das kann vielen Lesern ausgesprochen gut gefallen. Anderen dagegen ganz und gar nicht.Zu den Letzteren gehöre ich.

Die Fakten: 1941 wird Estland von der Wehrmacht okkupiert. Die Soldaten fangen reichlich Tauben, um sie zu essen. Der Titel ist damit geboren. Der Plot behandelt den Lebensweg von drei zentralen Protagonisten: Edgar mit seiner unausgelebten Homosexualität ist opportunistisch bis zur Skrupellosigkeit; Juudith, seine Frau verliebt sich in den SS-Hauptsturmbannführer Hertz; und Roland, Vetter von Edgar, gibt den aufrechten Freiheitskämpfer. Stoff für Verwicklungen ist damit reichlich gewoben. Diese werden aus wechselnden Perspektiven beschrieben. Und nach den Nazis kommen die Sowjets. Deren Besatzungszeit bereitet die Bühne für die zweite Erzählebene und neuerliche “Charakterprüfungen“ der Figuren, angesiedelt in den Neunzehhundertsechzigerjahren in der Baltischen Sowjetrepublik. Wobei generell, ob 1944 oder 1966, die tiefere Gestaltung der Charaktere zugunsten der Handlungsstränge leider auf der Strecke bleibt.

Zum Erzählstil: hier muss ich den meisten Kritikern beipflichten. Insbesondere die Tonalität aus Perspektive von Juudith spielt schon fast ins Unerträgliche. Schwülstige Schöpfungsschilderungen treffen auf völkische Fantasien. Blut und Boden Symbolik feiert fröhliche Urständ. Nation und Natur werden zur Legitimation einer nordischen Identität, die sich dem Spielball der Geschichte so gut es eben geht zu erwehren versucht. Kann man ja machen. Und ich weiß aus eigenen Besuchen in Estland, dass die Angst dieses Landes vor einer erneuten Fremdherrschaft, ganz gleich von welcher Ideologie befeuert, einen Grundton des Alltagsbewusstseins vieler Menschen dort bildet. Ich persönlich mag es allerdings nicht so „allegorisch überdeutlich und melodramatisch süß“ – um hier mal den Kritiker der Süddeutschen Zeitung zu zitieren.

Unbestritten freilich hat Frau Oksanen, Jahrgang 1977, mit ihrer Herkunft den richtigen Background für diesen literarischen Versuch: sie ist Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters. Und ganz bestimmt werden viele Leser den Stil des Romans für sich auch sehr stark als zu Herzen gehend, poetisch, vielstimmig und lebendig erleben. Ich empfand es in großen Teilen halt einfach bloß als nationalistischen Kitsch – bin aber eben auch weder Este, noch Russe oder habe jemals in irgendeiner Armee gedient. Und zumindest Letzteres war meine eigene Entscheidung.

Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden
Kiepenheuer & Witsch, August 2014
Online bestellen:  https://www.buchhandel.de/buch/Als-die-Tauben-verschwanden-9783462046618

Autor: Harald Wurst | ph1.de

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 4: Ulla-Lena Lundberg, Eis – ein Drama voller Hoffnung

Wer den Klappentext des Romans „Eis“ der schwedisch-finnischen Autorin Ulla-Lena Lundberg liest, dürfte im ersten Moment eher abgeschreckt sein. Der deutet eher auf ein Heimatmelodram in bester Konsalik-Manier oder eine blutrünstige Story hin, welche Horror-B-Movies aus den 1970er Jahren zum Vorbild haben könnte. Was den Leser tatsächlich erwartet, wird jedoch nicht angedeutet: Ein einfühlsames Drama voller Hoffnung, das in einer Zeit angesiedelt ist, als ganz Europa in Trümmern lag.

Cover Eis Mare-verlagDie Handlung

Die Autorin erzählt aus der Sicht des allwissenden Erzählers die Geschichte des Geistlichen Peter Kümmel und seiner Familie auf den Örar-Inseln kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Obwohl die Inseln irgendwo im Nirgendwo zwischen Schweden und Finnland liegen, hat der Krieg auch hier seine Spuren hinterlassen. Etwa in Form von Frau Doktor Gyllen, deren sowjetische Abschlüsse in Finnland nicht anerkannt werden, weshalb sie auf den Inseln als Hebamme arbeitet, bis sie einen regulären finnischen Abschluss erworben hat. Die Bevölkerung hat keine Ahnung, welches dunkle Geheimnis Frau Doktor mit sich trägt: Nachdem ihr Mann von Stalins Schergen verhaftet worden war, hatte sie ihren Sohn zurückgelassen und war aus der Sowjetunion geflüchtet. Sie vertraut sich lediglich Peter Kümmel an, nachdem dieser eine feste Autorität in der Kirchengemeinde geworden ist.

Aufgenommen wird der neue Pfarrer, der jedoch erst noch die Abschlussprüfung bestehen muss, bevor er als vollwertiger Pfarrer anerkannt ist, von der Gemeinde herzlich. Vor allem der Küster und der Kantor, die später zu den besten Freunden der Kümmels auf der Insel werden sollen, sind ihm anfangs eine wichtige Stütze. Schließlich ist die Gemeinde auf den Inseln trotz des scheinbaren Zusammenhalts tief in zwei Fraktionen gespalten, sodass der Pfarrer stets zu einem gerechten Ausgleich zwischen den Siedlungen im Westen und im Osten der Inseln bedacht sein muss.

Es gelingt der jungen Pfarrersfamilie schnell, sich auf den Inseln einzuleben und sich dank der landwirtschaftlichen Kenntnisse von Mona Kümmel die Grundlage für bescheidenen Wohlstand zu schaffen. Obwohl Mona bisweilen eifersüchtig auf die Gemeinde ist, die ihren Gatten allzu sehr in Beschlag nimmt, scheint dem Glück der Familie trotz einiger Schwierigkeiten und Rückschläge auf den Örar-Inseln nichts im Wege zu stehen. Ein einziger unbedachter Augenblick bereitet dem Glück der jungen Familie jedoch ein jähes Ende.

Ein Zeitsprung für den Leser

Mit „Eis“ gelingt es Ulla-Lena Lundberg, ein fulminantes und dennoch einfühlsames Stück jüngerer Vergangenheit anhand der Schicksale einzelner Personen zu erzählen. Sie beschreibt nüchtern in einem Stil, der dem gemächlichen Lebensrhythmus der Inselbewohner angepasst wird. Lundberg verzichtet auch in dramatischen Momenten auf jegliche Melodramatik, was ihre Figuren umso plastischer und lebendiger erscheinen lässt. Sie beschreibt Episoden aus dem Leben ihrer Figuren, die einfach nur ihr Leben leben wollen. Geschickt lässt sie einige historische Fakten einfließen, die den Leser nicht überfordern, aber einen Einblick in die alltäglichen Herausforderungen geben, denen sich die Menschen in den ersten Jahren unmittelbar nach der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts stellen mussten.

Mein Fazit

„Eis“ ist ein rundum gelungenes Werk, das den Leser von der ersten bis zur letzten Seite gemächlich in seinen Bann zieht. Ein ideales Buch also für warme Winterabende vor dem flackernden Kaminfeuer.

Ulla-Lena Lundberg, Eis
Mare Verlag, 1. Auflage August 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Eis-9783866482067

Autor: Harry Pfliegl

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 3: Philip Teir, Winterkrieg. Oder: Mittelstand ist Abgebrannt.

Hieno! Das ist Finnisch für in etwa: „Wunderbar“. Und damit will ich gleich mal den besten ersten Satz eines Buches feiern, den ich seit langem gelesen haben: „Den Hamster der Enkelkinder einzufrieren war der erste Fehler, den Max und Katriina in diesem Winter begangen hatten – weitere sollten folgen.“

Quelle: www.randomhouse.de

In diesem Sinne: Willkommen im Winterkrieg! Ein Wort, welches für das finnische Selbstverständnis bis heute einen zentralen Topos darstellt (als Kampf der Finnen gegen die Sowjets 1939 bis 1940 mit Beginn der fatalen Annäherung an Nazi-Deutschland). Auf metaphorischer Ebene wird der Begriff nun zum programmatischen Titel des neuen Romans von Philip Teir. Geboren 1980 in Pietarsaari, studierter Philosoph, praktizierender Journalist und derzeit als einer der bedeutendsten Nachwuchsautoren Finnlands gehandelt. Sein Anspruch ist freilich, dieses Lob deutlich über die Grenzen Skandinaviens hinaus zu rechtfertigen.

Gibt es paneuropäischen Mittelstand? Klar doch, sagt Phillip Teir. Denn er hat ihn ausgesprochen gut beobachtet und beschrieben. Sein Protagonist Max ist Soziologieprofessor und steht kurz vor seinem 60. Geburtstag. Eine unangenehme Aussicht, in jeder Hinsicht. Seine Frau Katriina ist zwar Mutter der gemeinsamen Töchter Helen und Eva, doch weder Gespräche noch Sex führen mittlerweile zu beidseitigem Vergnügen. Diese zwischen beiden schmerzhaft klar gezeichneten Stille oder auch der quälende „Alles-Vorbei- bzw. Was-wäre-wenn-Modus“ wird von Philip Teir für mein Empfinden weniger typisch finnisch als vielmehr schon in angelsächsischer Manier erzählt und fokussiert. Die Töchter sind allerdings ein wenig klischiert angelegt. Helen hat Kinder… und bleibt Finnin. Die schöne Eva dagegen versucht es mit Kunst in London und wird, oh Wunder der dramaturgischen Volte, fast schwanger von ihrem Professor. Als Max dann noch seine absehbare Affäre mit einer Journalistin startet, läuft die Geschichte im bitterkalten Winter von Helsinki auf ihren Showdown zu.

Soweit der grobe Rahmen. Die beachtliche Kunst von Philip Teir zeigt sich aber eindeutig in seiner klaren und so gut wie in jedem Satz folgerichtig schlüssigen, ja fast schon erbarmungslos zielgerichteten Sprache. Hier wird ein grenzübergreifend systemimmanentes Missverständnis des modernen Mittelstands chirurgisch präzise ausgezirkelt und in den Protagonisten gespiegelt. Die Illusion einer alters- wie geschlechtslosen und vom Ort unabhängigen Identität zeigt sich als paradoxes Versprechen, das sich niemals einlösen lässt – dem aber trotzdem jeder auf seine Art gern aufsitzt.

Alles in allem: Ein sehr fein beobachtetes europäisches Sittengemälde unserer Zeit von Meister Teir, das gern auch neben Werken seines britischen Kollegen Ian McEwan in meinem Regal zu stehen kommt.

Philip Teir, Winterkrieg
Karl Blessing Verlag, 2014
Link zu Amazon: http://amzn.to/1EnZyjc

Autor: Harald Wurst | ph1.de

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 1: Roope Lipasti, Ausflug mit Urne. Ein finnischer Fahrtenschreiber.

Was ist eigentlich Finnland? Manchmal endlose Öde, dann wieder jede Menge Wald, noch mehr Seen, reichlich Mücken im Sommer, viele kauzige Typen, eine zwiespältige Historie und trinkfreudige Tristesse als gelebtes Oxymoron… quasi das Russland von Skandinavien.

Die Brüder Kaurismäki lassen schön grüßen. Und Roope Lipasti gibt unseren Vorstellungen einen Wink zurück. Schwarz auf weiß, erfreulich vielseitig und ja: ausgesprochen lustig! Sein Buch „Ausflug mit Urne“ ist die Geschichte einer Reise zweier ziemlich ungleicher Brüder im fast gleichen Alter: Teemu, Anfang 40, Versicherungsmathematiker und Ich-Erzähler des Romans – und Janne, etwas jünger und von der Gesinnung her das, was man anderen Ländern als Hallodri bezeichnen würde.

Anlass der Reise ist der Tod des gemeinsamen Stiefgroßvaters Jalmari, der die beiden allerdings im Auto begleitet. Als Asche in seiner Urne. Ziel der Fahrt ist ein Kaff im Osten Finnlands namens Imatra. Dort soll das Testament des Verstorbenen eröffnet werden. Und dort wollen die Brüder die Asche auf irgendeine mehr oder weniger pietätvolle Weise loswerden. Außerdem hoffen beide auch auf ein lohnendes Erbe, denn Opa Jalmari ging in den über 90 Jahren seines Lebens zwar vielen und reichlich obskuren Tätigkeiten nach, aber reichlich Geld in den Taschen hatte er immer. Den Trip planen unsere Helden als eine Art „Sentimental Journey“ mit Stationen auf dem Lebensweg des Großvaters. Im Ergebnis rauschen sie freilich von einer Tragödie in die nächste. Die unterschiedlichen Lebensentwürfe müssen ausdiskutiert werden, Mitmenschen, Landschaften und Orte bereiten Unbehagen, das Auto macht Sperenzchen, Kneipen und Hotels sind überwiegend erschütternd – und beide werden mehrmals wacker verprügelt.

Das männliche Trauerspiel wird schließlich noch durch eine Frau erweitert: Elli. Die war einst mit Janne verheiratet, hatte danach eine Affäre mit Teemu – und taucht plötzlich während der Reise wieder auf. Erst in den Gesprächen der Brüder, dann in natura und mit einem Kind, von dem beide der Vater sein könnten. Bleibt noch das erträumte Millionenerbe, welches sich am Ende als Hirngespinst erweist. Bis auf einen geheimnisvollen Schlüssel. Was es damit auf sich hat, will ich aber hier nicht verraten.

Klingt alles nicht so nach amüsanter Lektüre? Ist es aber! Autor Lipasti betreibt in seiner Heimat den sehr populären Blog „Pihalla“ (auf Deutsch: „auf dem Hof“ – außerdem Titel eines Films aus dem Jahr 2009), in dem er den finnischen Alltag satirisch begleitet und beschreibt. Diese Sympathie für schräge Figuren und kuriose Situationen zelebriert er in seinem Roman mit einer großen Lust am pointierten Formulieren. Lakonisch, aber nie gefühllos, sensibel, aber nicht sülzig. Dazu garniert Lipasti die Handlung im richtigen Rhythmus mit Bonmots aus dem Kopf des Erzählers. Kostprobe gefällig? „Leichter Alkoholismus ist, wenn man nie vergisst, Bier in die Sauna mitzunehmen. Schwerer Alkoholismus zeigt sich, wenn man ans Bier denkt, aber die Sauna vergisst.“ Oder: „Heutzutage braucht man keine Armbanduhr, denn um Dinge zu erledigen, gibt’s nur noch einen günstigen Moment: jetzt.

Fazit: Roope Lipasti liefert mit „der Urne“ über 300 Seiten plastische und klug modellierte Unterhaltung. Keine übermäßig schwere Kost, aber definitiv ohne trivialen Nachgeschmack im Abgang. Eben sauber „gefinnischt“.

Roope Lipasti, Ausflug mit Urne
Karl Blessing Verlag, August 2014
Link zu Amazon: http://amzn.to/1AD5ro5

Autor: Harald Wurst | ph1.de