Rezension: Meir Shalev, Zwei Bärinnen

Mit der ganzen Wucht des Alten Testaments
Abenteuerroman, Erzählung, Familiensaga, Krimi, dazu noch tiefe Einblicke in Beziehungen und Verstrickungen, Überlieferungen und Familiengeheimnisse einer alteingesessenen Familie in Israel: Mehr geht kaum. Und die karge Landschaft, die ebenso schroffen Bewohner und die Selbstverständlichkeit, mit der „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ gelebt wird, ziehen den Leser völlig in den Bann. Meir Shalev schafft es, in einer Erzählung der Gegenwart die Atmosphäre und Wucht des Alten Testaments einzufangen, in der ein Gott aber nicht präsent ist.

Quelle: www.diogenes.de
Quelle: www.diogenes.de

Liebe und Verlust, Glück und Grauen, Geheimnisse und Sühne
Ruta Tavori erzählt einer Interviewerin, die eine Forschungsarbeit schreibt, ihr gesamtes Leben. Dabei folgt sie keiner anderen Reihenfolge als der, die sie selbst wählt, setzt Schwerpunkte und Tempo mehr als eigenwillig. Im Mittelpunkt steht Großvater Seev aus Galiläa, ein knorriger Kerl mit Augenklappe, der schreckliche Geheimnisse verbirgt. Eines Tages geht er, um eine neue Siedlung zu gründen, woraufhin ihm sein Vater das Nötigste mit einem Wagen schickt: „… den ein mächtiger Ochse zog, so hieß es immer, ein mächtiger Ochse“, und der brachte „ein Gewehr, eine Kuh, einen Baum und eine Frau mit.“ Diese wichtige Reihenfolge, über die Jahre tradiert, setzt ganz klare Prioritäten.

Im Mittelpunkt stehen auch drei Selbstmorde im Jahr 1930, von denen alle Dorfbewohner wissen, dass nur zwei der Bauern tatsächlich selbst Hand an sich gelegt haben. Ruta enthüllt im Laufe der Erzählung die Hintergründe und Zusammenhänge hinter diesem Mord, sie zeigt: alle Beteiligten sind Täter und Opfer zugleich; 1930 ebenso, wie in Rutas Gegenwart. Der Leser macht atemlos alle Sprünge mit, ist an beiden Erzählsträngen gleichermaßen interessiert und verfolgt mit Spannung und steigendem Entsetzen, dass Vergangenheit und Gegenwart, das Leben des Großvaters und das Leben der Enkelin Ruta mit starken Fäden verknüpft sind, die einem Jahrtausende alten Webmuster folgen und sich nicht durchtrennen lassen. Doch wenn das Erzählen aller Geschichten auch Therapie ist, stellt Ruta am Ende der Geschichte fest: „Wie Großvater Seev mag auch er es nicht, wenn man zu viel über bestimmte Taten und bestimmte Zeiten redet. Ich verstummte. Erinnerte mich: Ich bin auch so.“

Mein Fazit
Ein außergewöhnliches Buch mit außergewöhnlichem Erzählstil. Ich hatte sehr schnell das Gefühl, dass Ruta ihre Geschichte nur für mich allein erzählt. Ein Buch, das Bilder heraufbeschwört, Menschen erstehen lässt, eine andere Zeit und eine andere Moral nahtlos in die Gegenwart einpasst.

Was für ein grandioses Buch. Ich konnte nur schwer wieder auftauchen.

Meir Shalev, Zwei Bärinnen
Diogenes Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Zwei-Baerinnen-9783257069112
Autor: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de

Rezension: Jan Guillou, Die Brückenbauer

Knapp 800 Seiten entführen den Leser nach Norwegen, Deutschland und Afrika zu Anfang des 20. Jahrhunderts.

Drei Brüder, Fischersöhne einer westnorwegischen Insel, erleiden das gleiche Schicksal wie so viele von ihnen: Ihr Vater kommt beim Fischfang ums Leben. Da sie überdurchschnittlich intelligent und handwerklich begabt sind, nimmt sich eine Stiftung ihrer an. Sie kommen über Umwege an das renommierte Polytechnikum in Dresden, um zu den besten Ingenieuren des Landes ausgebildet zu werden. Die Brüder verpflichten sich, die Ausbildungssumme durch ihre Arbeit und Expertise zurückzuzahlen und nach Beendigung des Studiums nach Norwegen zurückzukehren. Dort sollen sie die „unmögliche Brücke“ über die Herdangervidda, die höchste und unwirtlichste Hochebene Europas, bauen.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Anders als geplant
Natürlich sind auch Ingenieurstudenten nicht gegen Liebe gefeit. Einer der Brüder flieht nach einem Liebesdebakel nach Deutsch-Ostafrika, der andere folgt seiner verbotenen Liebe nach England. So bleibt die Last der Rückzahlung auf dem ältesten Sohn hängen, der sich in die Pflicht fügt. Auch er kämpft um seine Liebe und will durch seine Arbeit dem voreingenommenen reichen Vater seiner deutschen Freundin beweisen, dass er für sie sorgen kann. Von hier an teilt sich der Roman in zwei Handlungsstränge – dem Bruder in England ist der zweite Teil der Trilogie gewidmet – und nimmt den Leser mit in die eisigen Höhen Norwegens und die heiße Wildnis Deutsch-Ostafrikas.

Reizvoller Wechsel
Diese Gegensätze in Natur und Menschen, die Parallele des Eisenbahnbaus – denn der mittlere Bruder ist am Bau der Tanganjikabahn beteiligt – und der Hintergrund des vibrierenden neuen Jahrhunderts mit all seinen technischen Möglichkeiten zieht den Leser in den Lesefluss hinein. Der Einfluss, den der technische Wandel auf die Gesellschaft und die Stellung der Frauen hat, die scheinbar unbekümmerte Zeit, in der alles möglich ist, wenn man es nur will, werden von Guillou in beeindruckenden Bildern beschrieben. Kleiner Clou: Sein Großvater und dessen Brüder haben 1901 das Technikum in Dresden abgeschlossen. Guillou hat die Rede des damaligen Dekans fast 1:1 in seinem Roman übernommen. Diese Verknüpfung von familiärem Hintergrund und Fantasie in historischem Rahmen hat einen großen Reiz. Doch was der Leser im Gegensatz zu den jungen und ungestümen Protagonisten weiß: Europa befindet sich am Rande des ersten Weltkrieges und Freunde werden bald zu Feinden…

Längen und Klischees
Ab diesem Zeitpunkt schwächelt das Buch dann auch. Generell beschreibt Guillou vieles sehr detailliert, aber gerade im letzten Drittel wird es extrem. Anfangs ist es noch interessant zu sehen, wie sich der beginnende Krieg auf die beiden Brüder auswirkt. Doch gerade der in Afrika spielende Teil greift arg tief in die Klischeekiste der Kolonialzeit. Das vorläufige Ende, als sich beide Brüder nach langer Zeit wieder begegnen, ist merkwürdig ungerührt und steif.

Mein Fazit
Die Brückenbauer ist der erste Teil einer Trilogie und lässt sich gefällig lesen. Er bietet interessante und auch mitreißende Einblicke in Brückenbau unter extremen Bedingungen vor dem Hintergrund des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Themen Familie, Verpflichtungen, Liebe, Historie und großartige Landschaften sind Garanten für ein unterhaltsames Buch. Die Charaktere sind ansprechend gestaltet, die Protagonisten bleiben allerdings oft merkwürdig flach und neutral. Im letzten Drittel habe ich häufiger quergelesen, da die detaillierten Beschreibungen strategischer Kriegskünste in diesem Rahmen einfach zu langweilig wurden. So wirkt auch das gesamte Ende etwas hastig zusammengestrickt. Alles in allem aber ein empfehlenswertes Buch für ein verregnetes Wochenende.

Jan Gulliou, Die Brückenbauer
Heyne Verlag, 2012
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Brueckenbauer-9783453268258
Autorin dieser Rezension: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de

Rezension: Ryan Bartelmay, Voran, voran, immer weiter voran

Amerikanischer Mittelwesten, 1950-1998: Über fast ein halbes Jahrhundert begleitet der Leser die Brüder Chic und Buddy Waldbeeser. Ihr Vater hat sich früh umgebracht, die Mutter ist mit einem neuen Mann nach Florida gegangen, aber sie beeinflussen immer noch das Leben der Brüder. Der Älteste, Buddy, geht fast am Selbstmord seines Vaters zugrunde. Ihm fehlt jemand, der seinem Leben eine Richtung gibt. Chic sehnt sich nach einem großen Bruder, zu dem er aufschauen kann, doch das kann Buddy nicht leisten. Die Sehnsucht nach Emotionen, nach Verbindung und Verlässlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben der Brüder. Ihnen bei der Suche nach einem Ziel, einer Bestimmung und der Erfüllung des kindlichen Wunsches nach bedingungsloser Liebe zuzusehen, ist manchmal fast schmerzhaft.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Verzweifelte Suche nach Halt
„Sein Wunsch nach einer Verbindung zu einem Menschen oder einer Sache war so stark, dass er sich fühlte, als würde in seinem Inneren ein Mixer rotieren und ständig seine Sehnsucht umrühren“, so Chic im Jahre 1971. Während der knapp 50 Jahre passiert nicht wirklich viel, das Leben der vier Protagonisten plätschert so dahin, durchbrochen von einer Tragödie und aneinander gekettet durch ein Geheimnis. Resigniert fasst Chic mit gerade mal 40 Jahren seine bisherige Lebenserfahrung in einem Monolog zusammen: „Wenn Sie Glück haben, wird jemand Sie lieben. Diesen Menschen werden Sie enttäuschen. Der Mensch, der Sie liebt, wird Sie eines Tags vielleicht hassen, und Sie können nichts dagegen machen. Auch wenn Sie es versuchen. Und Sie werden es versuchen. (…) Das Schlimmste ist, dass Sie es nicht aufhalten können. Nichts davon. Das Leben hat seine eigene Dynamik. Voran, voran, immer weiter voran.“ Und das ist die Tragik: Nicht das Leben der Waldbeesers geht voran, sondern das Leben um sie herum, unerbittlich und rücksichtslos.

Voran. Zum neuen Anfang oder zum Ende.
In ständigen Sprüngen zwischen den Jahrzehnten verfolgt der Leser, wie Chic gnadenlos altert und wie er sich sein Leben im Jahr 1998 eingerichtet hat. So weiß der Leser bereits, wie es Chick im Alter ergehen wird, während er als Neunzehnjähriger frisch verheiratet sein Leben beginnt. An vielen Stellen des Buches möchte ich Chic an den Schultern nehmen und schütteln, ihm zurufen: „Siehst du nicht, was passiert?“. Ich werde zum ohnmächtigen Augenzeugen und weiß schon lange vor den Protagonisten, welche Auswirkungen ihre Handlungen (oder Handlungsunfähigkeiten) haben. Chic, Buddy und ihre Frauen sind wie Planeten, die – gefangen auf ihrer eigenen Umlaufbahn – unermüdlich umeinander kreisen. Manchmal kommen sie sich auf ihrer Reise sehr nahe, dann wieder sind sie Lichtjahre voneinander entfernt. Und jeder Versuch, aus ihrer Umlaufbahn auszubrechen, scheitert.

Mein Fazit
Voran, voran, immer weiter voran ist das Romandebüt des 39jährigen Ryan Bartelmay, der mit seiner Familie in Chicago lebt. Seine klare und schnörkellose Sprache kommentiert und seziert das Leben der beiden Brüder schonungslos und lakonisch. Der leise Humor, der an vielen Stellen hervorblitzt, bewahrt das Buch davor, depressiv oder frustrierend zu werden. Es bleibt stets ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass sich alles zum Besseren wenden könnte. Ryan Bartelmay schafft es durch seine Schreibweise allerdings immer wieder, dass diese Hoffnung schal schmeckt und dass der Humor zum Galgenhumor wird. Ich hatte gehofft, dass die Geschichte um Liebe und Verlust, Schuld und Versöhnung, Sprachlosigkeit und Resignation für alle Beteiligten ein gutes Ende haben wird – und wusste doch schon früh, dass ich nur ohnmächtiger Zuschauer sein würde.

Ryan Bartelmay, Voran, voran, immer weiter voran
Blessing Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Voran-voran-immer-weiter-voran-9783896675262
Autor: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de

Rezension: Ted Thompson, Land der Gewohnheit. Oder: Die Demaskierung des American Dream

Anders und Helene führen nach außen ein typisch amerikanisches Leben: Haus mit Garten, zwei erwachsene Söhne, ein seit Jahren befreundetes Ehepaar, Erfolg im Beruf (Anders) und ehrenamtliches Engagement (Helene). Trotzdem bricht Anders aus dieser scheinbaren Idylle aus, reicht die Scheidung ein, sorgt bei der jährlichen Weihnachtsparty der Freunde für einen Eklat und arrangiert sich in seinem neuen Leben als Single. Bald registriert er allerdings, was er aufgegeben hat und will reumütig zurückkehren. Warum das nicht möglich ist und was überhaupt zu Anders‘ Ausbruch führte, deckt Ted Thompson nach und nach auf und sorgt wie ein Chirurg, präzise und schmerzhaft, für eine Demaskierung des American Dream.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Der Schmerz des Aufwachsens

„Erwachsensein bedeutete genau das, oder? Eine Welt zu schaffen, die ein klein bisschen besser war als die, in die man selbst hineingeboren worden war.“

Wäre das möglich, lebten wir alle in einer perfekten Welt. Doch selbst, wenn wir die scheinbaren Fehler unserer Eltern nicht wiederholen, machen wir doch andere – eine Erkenntnis, der auch Anders sich stellen muss.

Sein Leben lang versucht Anders, aus dem mächtigen Schatten seines erfolgreichen und unnahbaren Vaters herauszutreten, sein spießiges und distanziertes Elternhaus abzustreifen, und schafft doch, auf seine eigene Weise, eine ebenso spießige Vorort-Idylle mit entfremdeten Söhnen. Der ältere Sohn, Tommy, wiederholt genau dieses Muster und lebt zielstrebig und erfolgreich mit Frau und Kindern in einem hübschen Haus, während der jüngere Sohn, Preston, sein Leben scheinbar überhaupt nicht im Griff hat und sich in der Welt von Drogen und Kleinkriminalität bewegt.

Welche Beziehung und welches Lebensmodell Ted Thompson auch beleuchtet, es bröckelt überall und auch unter der Fassade der reichen Freunde lauern Abgründe. Schicht für Schicht trägt der Autor die dicke Farbe auf den Fassaden ab, beleuchtet schonungslos alle Verhinderungsstrategien, Ausflüchte, Rebellionsversuche und gescheiterten Pläne. Am Ende bleiben hilflose und verwirrte Gestalten auf der Suche nach dem eigentlichen Selbst, der Wahrheit und bedingungsloser Liebe. Gefangen in ihren Rollen und hinter ihren Masken können sie nicht aus ihrer Haut und sind so gefangen im Land der Gewohnheit. So spitzt sich alles zu und liegt nach dem Finale in Trümmern. Liegt hier vielleicht die Chance, doch noch so zu leben, dass man sich selbst im Spiegel in die Augen schauen kann, ohne Verachtung zu spüren?

Mitreißender Gedankenstrudel

In einigen Rezensionen wird Thompsons Schreibstil angeprangert, mich hingegen hat er absolut in seinen Bann gezogen. Die langen und teilweise verschachtelten Sätze haben – zusammen mit Sprüngen zwischen Gegenwart und Rückblenden – laut Rezensionen viele Leser abgeschreckt. Für mich untermauert diese Schreibweise absolut das, was Thompson inhaltlich beschreibt: Rasende und springende Gedanken, die kaum richtig zu fassen sind. Eine Unruhe, von denen die Protagonisten getrieben werden, die aber nicht konkret festzumachen ist. Den Versuch, Muster in der Vergangenheit zu erkennen und zu durchbrechen, und das Scheitern am hektischen Fluss des Alltags.

Im ersten Teil werden Gegenwart und Rückblick aus Anders‘ Sicht geschildert, den Mittelteil und das Finale schildert Thompson aus Helens und Prestons Position. Dadurch und in diversen Rückblenden wird deutlich, wie unterschiedlich zwei oder mehr Personen dieselbe Situation erleben können. Während zum Beispiel Anders seiner Familie durch unermüdliche Arbeit seine Liebe zeigt, wünscht sich seine Frau Helen eher persönliche Zuwendung. Durch Sprachlosigkeit und oberflächliches „Uns-geht’s-gut“-Denken verfestigen sich Konflikte und eskalieren schließlich.

Land der Gewohnheit ist ein schonungsloses Buch, das fein beobachtet, detailliert das Skalpell ansetzt und durchaus humorig eine ganz normale amerikanische Familie demontiert. Teilweise habe ich mich wie ein Voyeur gefühlt, der mit wachsendem Unbehagen Zeuge eines Streits wird, bei dem mehr und mehr schmutzige Wäsche ans Licht kommt, der aber auch zu faszinierend ist, um nicht weiter zuzuhören. Dazu kommen auch die vielen schrägen und bösartig-witzigen Situationen, die den Leser oft zwischen Mitleid und Häme schwanken lassen. Für mich ein lesenswertes Buch, das den Blick auf die eigene Lebenssituation und die eigenen Träume und Familienmuster schärft.

Ted Thompson, Land der Gewohnheit
Ullstein, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Land-der-Gewohnheit-9783550080746

Autor: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de

Rezension: Sherko Fatah, Der letzte Ort

Albert, ein Deutscher, sieht sich selbst als Aussteiger, ist aber mehr auf der Flucht vor dem Trübsal seines Vaters, der mit dem Untergang der DDR vor knapp 25 Jahren nicht zurechtkommt. Und nun hat Albert einen Fehler gemacht: Er ist in der irakischen Wüste aus dem klimatisierten Geländewagen gestiegen. Ehe er sich versieht, zieht jemand ihm und seinem irakischen Dolmetscher Osama Säcke über die Köpfe, wirft sie in ein Auto und entführt sie. Nun beginnt eine Odyssee, in deren Verlauf die Entführten von Gruppe zu Gruppe weitergegeben werden, sich verlieren, wieder finden, fliehen, wieder gefangen werden, sich gegenseitig misstrauen und doch wieder Freunde werden, weil es einfach keine anderen Freunde gibt in dieser feindlichen, heißen und trockenen Welt.

Machtspiele

Wer genau hinter den Entführungen steckt, was eigentlich das Ziel der Entführer ist, wird nie so recht deutlich in diesem Buch von Sherko Fatah. Die verhüllten Männer spielen mit ihren Gefangenen, misshandeln sie und lassen Albert und Osama in einem permanenten Zustand der Angst. Da Albert die Sprache nicht versteht, ist er auf Osama als Dolmetscher angewiesen. Doch als sich herausstellt, dass Osama mit einem der Anführer früher einmal zusammengearbeitet hat, wächst das Misstrauen, und die Welt um Albert herum verliert die gewohnten Konturen. Nichts ist wie es scheint, Albert versteht die Hintergründe und Überzeugungen seiner Entführer nicht, kann Osama nicht durchschauen, schwimmt zwischen Resignation und Tapferkeit. In den langen Stunden ihrer Gefangenschaft erzählen sich der Deutsche und der Iraker aus ihren Leben, ihrer Jugend, aber schnell wird deutlich, dass beide Welten viel zu verschieden sind, und so versteht auch hier wieder einer den anderen nicht. Dieses vage Mäandern zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den Welten, zwischen Alberts gestörter Familiensituation und der verstörenden Entführung, Angst vor dem Tod und Angst vor dem Leben bestimmt weite Teile des Romans. Wer oder was die Oberhand gewinnen wird, ist bis zum Schluss offen.

Ein prophetisches Buch?

Es scheint, als wäre die Realität im Jahr 2014 in diesem Buch vorhergesagt oder als habe sie den Autor während des Schreibens eingeholt und überholt. Die ganze Verzweiflung und Zersplitterung im Irak wird deutlich in der Rede des ‚Emir‘, der am Ende der Entführungskette steht. Dieser erklärt explizit, wie sich seine Terrorgruppe die Zukunft des Landes vorstellt: Nicht nur sollen „die Kreuzfahrer, die Amerikaner und Briten, die hier hereingeströmt sind“ komplett vernichtet werden, sondern auch alle weiteren „Ketzer, die das Antlitz des wahren Glaubens verschandeln“ – in seinen Augen Christen, verwestliche Kurden, Schiiten und Kollaborateure.

Mit dieser flammenden Rede greift Sherko Fatah erschreckend hellsichtig dem Terror vor, der 2014 zur grausamen Realität wird: Entführte und vor laufender Kamera hingerichtete Journalisten, IS-Milizen, die Christen in die Enge treiben und verhungern lassen, bis hin zu aktuellen Terror- und Hinrichtungsdrohungen in Australien. Doch woran liegt es, dass der Autor ein so erschreckend wirkliches Bild in seinem Roman zeichnen konnte? Vielleicht an seiner Herkunft: Fatah ist der Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen, der seine ersten elf Lebensjahre in der DDR verbrachte und den Kontakt zu seiner irakischen Familie mit regelmäßigen Besuchen aufrecht erhielt. Oder liegt es vielmehr daran, dass der Rest der Welt Augen und Ohren verschlossen hat vor allen religiösen und ideologischen Überzeugungen, die im Irak wie ein Lauffeuer um sich greifen?

Keine Hilfe

Der letzte Ort zieht den Leser mit in den Strudel aus Gewalt und Hilflosigkeit und gestattet viele Einblicke in Leben, Denken und Planen der verschiedenen Terrorgruppen im Irak. Man bekommt ein gewisses Verständnis für das Feuer, das in den Terrorführern brennt, die Überzeugung, das Richtige zu tun und den Willen, ihre Auffassung von Religion und Lebensweise als einzig wahre durchzusetzen – mit so viel Gewalt wie nötig. Mir persönlich blieben die Figuren trotz aller Rückblenden in ihr vergangenes Leben oder Darstellungen der todbringenden Überzeugungen ein wenig zu flach, unnahbar, so dass ich keine wirkliche Beziehung aufbauen konnte und die Odyssee der Protagonisten teilweise merkwürdig unberührt verfolgt habe.

Trotz aller detaillierten Einblicke bietet das Buch keine Ausblicke, keine Lösungen, keine Hilfe oder wenigstens Hoffnung und schafft so eine weitere Parallele zur aktuellen Situation im Irak.

Sherko Fatah, Der letzte Ort
Roman Luchterhand, 2014
http://amzn.to/1mzWcUK

Autor: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de

Rezension: Lucy Fricke, Takeshis Haut

Frida ist ‚Geräuschemacherin‘, sie liefert Töne zu Filmen und hört mehr als andere Menschen. Sie weiß, wie es klingt, eine Jacke zu schließen, aus einem Sessel aufzustehen, eine Zigarette zu rauchen. Denn sie ist die Beste ihres Fachs. Zusammen mit Robert hat sie sich in ihrem Leben eingerichtet und alles könnte so weitergehen. Doch nun liegt ein Film auf ihrem Tisch, den ihr ein junger Regisseur ungefragt geschickt hat. Das Problem: Der Tontechniker ist mitsamt der Tonspur verschwunden, und der Film spielt in Japan.

Quelle: www.rowohlt.de
Quelle: www.rowohlt.de

Fremdes Land und fremde Geräusche

Nach langem Zögern schaut Frida den Film und sieht eine futuristische, apokalyptische Szenerie. Mit widerwilliger Faszination stimmt sie zu, in Japan auf Geräuschejagd zu gehen. Der Regisseur stellt ihr in Japan einen jungen Mann zur Seite. Takeshi soll sie an die Orte des Films bringen. In Kyoto ist Frida schnell begeistert von der Umgebung, den Menschen und den vielen neuen Tönen und Geräuschen – doch etwas stimmt nicht. Sie hört ein für sie neues Geräusch im Hintergrund aller Aufnahmen, ein Dröhnen, das sie sich nicht erklären kann. Während sie immer tiefer einsinkt in die Kultur und Faszination des fremden Landes, taucht Frida auch tiefer ein in ihre Gefühle für Takeshi.

Ein Beben in beiden Welten

Je länger Frida in Japan ist, desto mehr wird ihr bisheriges Leben erschüttert. Deutschland ist nun ein ferner Traum, die Anrufe und SMS von Richard stören, die Anziehung zu Takeshi bestimmt ihr Handeln. Als dann am 11. März 2011 aus dem Dröhnen ein Erdbeben wird, dem ein gigantischer Tsunami folgt, spiegelt die Katastrophe außen Fridas innere Katastrophe wieder. Ein paar Sekunden nur, und nichts ist mehr, wie es war. Dass der Tsunami das Kernkraftwerk in Fukushima beschädigt hat, erfährt Frida nur über die internationalen Medien, und über Richard, der sie anfleht, das Land zu verlassen. Frida ist hin- und hergerissen zwischen ihrem alten Leben und ihren Gefühlen für Takeshi.

Ein kleines, großes Buch

Selten hat mich ein Buch so berührt, zum Lachen und Nachdenken, fast zum Weinen gebracht. Keine 200 Seiten umfasst Takeshis Haut, und jede einzelne Seite ist wunderbar in Sprache, Aussage und Bildern. Als Leser weiß man kaum, welches Beben erschütternder ist: Das äußere in Japan, oder das innere in Frida. Trotz des schweren Themas ist das Buch voller Leichtigkeit, Trost und Zuversicht. Ein sehr empfehlenswertes Buch, das ich sicher noch öfter lesen werde.

Lucy Fricke, Takeshis Haut
Rowohlt Verlag, 2014
Online bestellen: http://amzn.to/1qHkXg7
Autorin: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de

Rezension: Wolfgang Herles, Susanna im Bade – ohne Zugang

„Ein Buch ist ein Spiegel. Wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel herausgucken.“
(Georg Christoph Lichtenberg)

Warum ich meine Rezension mit diesem Zitat beginne? Weil ich mir immer noch nicht sicher bin, ob es an mir liegt oder an dem Buch, dass ich so gar keinen Zugang gefunden habe. Daher rezensiere ich auch zum ersten Mal in meinem Leben ein Buch, das ich nicht beendet habe. Bis Seite 114 (von 276) habe ich ausgeharrt, durchgehalten, mich durchgekämpft. Es zwischendurch weggelegt, wieder hervorgeholt … und schließlich gemerkt, dass es einfach für mich nicht lesbar ist.

Cover: S. Fischer Verlag
Cover: S. Fischer Verlag

Das Buch Susanna im Bade von Wolfgang Herles handelt von einem Kunsthändler, der süchtig nach Kunst und schönen Frauen ist. Er verliebt sich Hals über Kopf, zuerst in ein Bildnis, dann in eine Frau. Finanziell sieht es schlecht für ihn aus, da er sich von einmal erworbenen Stücken nie mehr trennen kann und ihm so das Geld auszugehen droht. Beim Versuch, Geld von schwarzen Konten in der Schweiz zu holen, kommt plötzlich eine Erpresserin ins Spiel.

So weit habe ich gelesen, die Umschlagklappe verrät noch ein wenig mehr, sogar Mord. Klingt spannend? Ja, fand ich auch. Aber die Art, in der Wolfgang Herles schreibt, ist für mich einfach unerträglich. Zuerst war es eine milde Irritation, dann bemerkte ich, dass ich längere Sätze zwei Mal lesen musste, bis ich sie in einen Zusammenhang bringen konnte. Und schließlich fiel mir auf, woran das liegt: Herr Herles vermeidet jegliche Anführungszeichen für direkte Rede. Und so schwamm ich von Satz zu Satz, ständig im Hinterkopf die Frage: „Wer sagt das denn gerade nun zu wem?“

Auch Gedanken der Personen stehen äußerlich ungekennzeichnet da. Für mich wurde das zunehmend zu einem durchgehenden Teppich aus für sich stehenden Sätzen und machte es mir unmöglich, das Buch weiterzulesen. Ich habe nie einen echten Bezug zu den handelnden Personen aufgebaut, sie blieben für mich merkwürdig blass, konstruiert, gefühllos. Und so hat es mich letztlich schlichtweg nicht mehr interessiert, wie es nun weiter geht im verworrenen Leben von Hans Achberg oder wer ihn warum erpresst.

Herles beschreibt Kunstwerke auf eine Weise, die in mir den beständigen Wunsch weckt, dieses Kunstwerk irgendwo nachzuschlagen, um mir eine Vorstellung davon machen zu können. Da ich nicht während des Lesens dauernd aufspringen und an den Computer rennen mag, hinterließ auch dieses Nichtwissen ein zunehmend frustrierendes Gefühl in mir.

Fazit: Susanna im Bade ist einfach kein Buch für mich. Ja, es mag durchaus sein, dass Leserinnen und Leser mit mehr Kunstverstand und mehr Bildung in diesem Buch schwelgen und es kaum weglegen möchten. Denn letztendlich kann nicht jedes Buch jedem Leser gefallen. Und da sind sie wieder, der Affe und der Apostel…

Wolfgang Herles, Susanna im Bade
S. Fischer Verlag, 1. Auflage 2014
Link zu Amazon: http://amzn.to/1hLQQxk

Autorin: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de

 

Rezension: Rebecca Stephan, Zwei halbe Leben

Nichts Halbes, nichts Ganzes

Diese Rezension habe ich längere Zeit vor mir her geschoben, denn ich war ziemlich enttäuscht. Der Klappentext und die Aufmachung des Buches versprachen so viel. Nur leider hält das Buch nichts von diesen Versprechungen.

1654Die Idee der Geschichte ist gut und realistisch: Maximilian und Sophie werden bei einem schlimmen Bombenangriff 1945 in einem Frankfurter Keller verschüttet. Dort erleben beide das, was man ‚Liebe auf den ersten Blick‘ nennt. Und noch mehr: Sie verfallen einander mit Haut und Haaren. Der Haken: Beide sind nicht nur verheiratet, sondern haben auch Kinder. Als sie sich dann aus dem Keller freigeschaufelt haben, beschließen sie, mit Hilfe einer guten Freundin von Sophie einen kompletten Monat in ‚ihrem Zuhause‘, dem Keller, zu verbringen, und dann erst zu ihren Familien zurückzukehren. Alles Weitere wollen sie dem Schicksal überlassen. So vereinbaren sie, sich jedes Jahr am 18. April zwischen 6 Uhr morgens und Mitternacht für genau fünf Minuten am Römerplatz aufzuhalten. Wenn sie sich begegnen, verbringen sie ihr weiteres Leben gemeinsam. Wenn nicht – dann versuchen sie es eben nächstes Jahr wieder.

Die Idee ist gut, aber dann wird zunehmend dick aufgetragen:

Sophie ist arm wie eine Kirchenmaus, ihr Mann ein prügelnder, ungepflegter, widerlicher Alkoholiker, der droht, sie umzubringen, sollte sie ihn verlassen. Maximilian gehört zu einer der reichsten Familien Frankfurts, steckt aber fest in einer Ehe mit einer gefühlskalten Frau und einem Netz aus Intrigen, das sein patriarchalischer Vater perfekt spinnt.

Wie sich die Leben der beiden über die nächsten Jahre entwickelt, wird abwechselnd von der Autorin erzählt und anhand von Briefen, die Maximilian und Sophie einander schreiben (ohne sie absenden zu können, da sie nicht mal ihre Nachnamen ausgetauscht haben). Auch diese Idee ist gut, allerdings ging mir das permanente Gejammere der beiden unglaublich auf die Nerven. Es ist für mich unglaubwürdig, dass Sophie in den Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit, in der tausende von Menschen verschollen sind, nicht irgendeinen Weg gefunden hätte, mit ihren Kindern komplett unterzutauchen.

Auch Maximilian fügt sich, wird immer schwächer und auf Dauer lethargisch und depressiv. Es muss sogar sein Sohn für ihn aktiv werden und ihn aus der scheinbar aussichtslosen Situation innerhalb weniger Monate herausboxen. Auch hier ging mir die Figur des armen, reichen Mannes, der nicht in der Lage ist, selbstständig zu handeln, sehr auf die Nerven. Vielleicht war es zu Kriegszeiten und in der Nachkriegszeit tatsächlich in der Gesellschaft so, aber ich tue mich schwer damit zu glauben, dass zwei Menschen, die sich dermaßen lieben wie Max und Sophie, tatsächlich 20 Jahre lang willentlich in ihren miserablen Leben steckenbleiben – egal in welcher Epoche.

Doch auf einmal überschlagen sich die Ereignisse, schnell wird noch der Bezug zu tatsächlich Geschehenem hergestellt, und ich kam aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Nach 20 Jahren tatsächlich Licht am Ende des Tunnels? Hoffnungsvoll nahm ich die letzten Seiten in Angriff und … dazu kann ich nun nichts sagen, ohne zukünftigen Lesern zu viel zu verraten. Darum sage ich sehr neutral: Der Schluss passt zu meinem Eindruck vom gesamten Buch. Und schüttele meinen Kopf noch ein wenig weiter.

Die Sprache im Buch ist zum Teil sehr schlicht, zum Teil sehr schwülstig. Dazu erklärt die Autorin überflüssig oft Sachverhalte, die man als halbwegs gescheiter Leser eigentlich sofort selbst versteht.

Mein Fazit: Es hätte wirklich ein sehr schönes Buch werden können, hinterließ aber während des Lesens und nach dem Zuschlagen bei mir ein eher genervt-frustriertes Gefühl. Übrigens ist ‚Rebecca Stephan‘ ein Pseudonym. Dahinter steckt Steffi von Wolff, die wohl normalerweise eher im Bereich der lustigen Frauenbücher angesiedelt ist. Da ich davon allerdings (noch?) keines kenne, kann ich keine Aussagen dazu machen, ob ihr das Genre vielleicht besser liegt. Vielleicht teste ich das mal als nächstes aus.

Rebecca Stephan, Zwei halbe Leben. List Verlag, 3. Auflage 2012

Autorin: Dorothee Bluhm WortParade
www.wortparade.de