Shortlist des Deutschen Buchpreises 2015: Entwertet (Kommentar)

DIE WELT formuliert es drastisch: Mit der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2015 sei vorgezeichnet, dass sich der Deutsche Buchpreis selber abschaffe. Nicht nur, dass als großes Manko Literaturkritiker keine ausreichende Stimme in der Jury hätten (was Leipzig Lob einbringt). Wer den „provokativsten, intelligentesten, sprachmächtigsten und verstörendsten Roman des Jahres“ nicht auf die Shortlist setze (gemeint ist Clemens J. Setz‘ „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“), der entwerte den kommenden Preisträger von vornherein, wer es auch sei.

Zustimmung. Doch es gibt noch mehr zu kritisieren. Was in Deutschland auf der Agenda steht, spiegelt sich in der Auswahl wieder: Drei Männer, drei Frauen. Und durch die unbegreifliche Streichliste jetzt mit Jenny Erpenbecks „Gehen, ging, gegangen“ ein Flüchtlingsroman als Favorit. Alles andere wäre eine Überraschung. Dazu fielen neben Clemens J. Setz auch die zwei anderen Longlist-Titel von Suhrkamp durch den Jury-Rost. Ein Indieverlag ist gar nicht mehr vertreten. Subjektiv fand auch mein Favorit „Baba Dunjas letzte Liebe“ (bei KiWi) keine Gnade.

Also: Herzlichen Glückwunsch, Jenny Erpenbeck. Doch dieses Jahr ist der Deutsche Buchpreis vergleichbar dem Friedensnobelpreis an Obama: Er ist ohne Wert.

Rezension: Lutz Seiler, Kruso. Keine Empfehlung.

Der Lyriker Lutz Seiler hat mit seinem ersten Roman den Deutschen Buchpreis 2014 gewonnen. Er wurde 1963 in Gera, Thüringen, geboren und studierte Germanistik. Lutz Seiler erhielt für sein lyrisches Werk mehrere Preise und Stipendien, unter anderem den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Fontane-Preis und den Uwe-Johnson-Preis.

Quelle: www.suhrkamp.de
Quelle: www.suhrkamp.de

Trakl-Liebhaber und Lebensverzweifler Ed

Edgar Bendler flieht aus Halle an die Ostsee, wo er den tragischen (Unfall-?, Selbstmord-?)Tod seiner Freundin zu verarbeiten hofft. Obwohl Anfang zwanzig, ist Ed gehemmt, sexuell unerfahren und psychisch instabil (er spricht mit einem toten Fuchs, scheint kaum in der Lage, sich kommunizierend auszudrücken). In der Gaststätte „Zum Klausner“ begegnet er einem Panoptikum skurriler Gestalten, die dort ihr Überleben unter primitivsten Bedingungen fristen. Sein einziger Wunsch: Er will   dazugehören, er will in den Kreis der „Eingeweihten“ , „Auserwählten“ und „Erleuchteten“ aufgenommen werden.

Kapitän Sprücheklopfer Kruso

Auch Alexander Krusowitsch, Kind eines sowjetischen Generals und einer russischen Zirkusartistin, muss gleich zwei Verluste verarbeiten: Seine Mutter, russische Zirkusartistin, stürzte bei einer Aufführung vor Sowjetsoldaten ab, als „Kruso“ sechs Jahre alt war. Als Kind musste er mit ansehen, wie seine geliebte Schwester „ins Wasser gegangen“ ist. Ed ist für Kruso Resonanzboden seiner kruden Unterweisungen, Weltverbesserungsideen und pseudophilosophischen Traktate über die Freiheit sowie für seine selbst verfassten Gedichte. Kruso wird Vaterfigur und Freund, und in manchen Szenen schimmert gar eine homoerotische Anziehung durch.

Schiffbrüchige und Esskaas

Alljährlich pilgern im Sommer Scharen von DDR-müden und regimekritischen jungen Menschen auf die Insel (von Kruso als „Schiffbrüchige“ bezeichnet), von der aus man einen Blick aufs das gelobte Land in Gestalt der Kreideküste der dänischen Insel Møn werfen kann. Kruso ist gespalten: Er sieht seine Aufgabe einerseits darin, den Obdachlosen eine Grundversorgung und einen sicheren Schlafplatz zu verschaffen. Andererseits setzt er alles daran, die Diktaturmüden davon abzuhalten, ihr Leben bei einer scheinbar so leichten, jedoch tödlichen Flucht aufs Spiel zu setzen. Er vermittelt den Republikmüden einen anderen Freiheitsbegriff und bedient sich dabei anderer Bewohner der Insel. Auch die Saisonarbeitskräfte, genannt Esskaas, halten zusammen. Sie pflegen ihre Bräuche und Riten, und selbst zu den Grenzschützern am Außenposten des real existierenden Sozialismus besteht ein freundschaftlicher Kontakt. Der Freiheitsbegriff, den Kruso im Sinn hat, ist einer, der mit Naturmystik und Naturerleben, der Erfahrung der Solidarität und Freundschaft mit Gleichgesinnten und der Liebe zur Poesie verbunden ist.

Sprache und Handlung

Lutz Seiler verwendet eine bilderreiche Sprache, manchmal jedoch mit unstimmigen und auch unfreiwillig komischen Metaphern. Ellenlange Beschreibungen und Wiederholungen ermüden, die Handlung erlahmt. Es wird viel geschwurbelt, gesoffen, wild durcheinander kopuliert und andeutungsreich spintisiert. Kaum einer seines Personals scheint wirklich klar im Kopf zu sein. Man hat den Eindruck, die ganze Insel ist eine Irrenanstalt, auf der sich die Insassen frei bewegen können. Erst im letzten Viertel nimmt der Roman Fahrt auf. Einschneidende Veränderungen sind im Sommer und Herbst Neunundachtzig auch beim Personal des Klausners zu beobachten.

Mein Fazit

Obwohl ich mich – als DDR-Bürgerin bis 1984 und Kennerin der Insel Hiddensee – sehr auf das Buch gefreut hatte, wurde mir bereits nach der Hälfte der Lektüre klar, dass es meine Erwartungen nicht erfüllen würde. Zu sehr vermisste ich einen Spannungsbogen, zu fremd blieben mir die Figuren. Trotzdem war ich am Ende froh, mich durchgekämpft zu haben. Von dem, was da auf den letzten hundert Seiten erzählt wurde, hätte ich mir schon mehr im Anfangsteil gewünscht. Für Leser mit besonderem Faible für hochartifizielle Sprache, psychologische Feinheiten und DDR-Geschichte kann das Buch dennoch durchaus eine Leseempfehlung rechtfertigen.

Lutz Seiler, Kruso
Suhrkamp Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Kruso-9783518424476
Autorin: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de