Ich wage mich an die ersten handschriftlichen Notizen

Ich wage mich an die ersten handschriftlichen Notizen meines Vaters.

„Meine Eltern stammten beide aus kinderreichen Familien. Meine Onkel und Tanten habe ich nicht alle kennengelernt, aber wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt, müssen es 16 an der Zahl gewesen sein.“

Ja, das stimmt. Mein Großvater hatte fünf Geschwister, meine Großmutter derer elf. Zwei Kinder meiner Großmutter fallen mir besonders auf:

Ich bin am 17. November geboren. Margarethe Harms wurde am 18. November 1891 geboren und starb im Januar 1893, gerade mal ein Jahr alt. Folkert Harms wurde am 19. November 1893 geboren. Er fiel im Juli 1915 als Soldat in Russland.

„Abends zogen die Fliegerverbände von Westen ins Landesinnere…“

„Abends zogen die #Fliegerverbände von Westen kommend ins Landesinnere. Man konnte genau ausmachen, wann sie ihr Ziel erreicht hatten. Sie warfen dann zur Markierung „Tannenbäume“ ab. Dies waren bunt flimmernde kleine Gebilde, die der Form nach wie kleine hell beleuchtete Tannenbäume aussahen. Diesen Zielpunkt musste das Führungsflugzeug jedes Verbandes durch den Abwurf den nachfolgenden Bombern anzeigen. Da immer mehrere Verbände zu einem Großverband zusammengefasst das Ziel anflogen, sah man auch viele leuchtende Markierungen. Erhielt das Führungsflugzeug vor Erreichen des Zieles einen Volltreffer der #Flugabwehr und stürzte ab, so war der folgende Verband praktisch ohne Orientierung. In vielen Fällen wurde dann die Bombenlast ohne Zielpeilung planlos abgeworfen. Das konnte dann auch für Bereiche außerhalb der eigentlichen Angriffszone gefährlich werden…“.

„Auf dem Bahnsteig drängten sich Flüchtlinge aus Schlesien…“

„Am Tag der Heimreise fuhr ich abends mit einem Güterzug nach Frankfurt/Oder. Eine andere Verbindung mit einem Personenzug bestand mit viel Glück erst wieder am kommenden Tag. Der Bahnbeamte hatte Mitleid und verfrachtete mich in einen Waggon. Es war bitter kalt. Draußen zeigte das Thermometer minus 25 Grad, die Wagentemperatur lag kaum darüber. Aber drinnen verspürte ich wenigstens nicht den eisigen Ostwind.
In Frankfurt/Oder herrschte das blanke Chaos. Auf den Bahnsteigen drängten sich Flüchtlinge aus Schlesien und Ostpreußen, dazwischen Einheiten der Wehrmacht, die auf den Weitertransport an die Front warteten. Alle Züge waren reserviert. Ich stand einsam und verlassen in der Nacht und hoffte auf eine Möglichkeit, weiter nach Berlin zu gelangen…“

Meine Familie und die NS-Zeit

Ich hatte angekündigt, dass der Text schreckliche Neuigkeiten über meine Familie birgt. Ich will es nicht selbst erzählen, sondern meinen Vater sprechen lassen:

„Wir wendeten auf unserer Wiese am Schwalenberg gerade das Heu, als ein Auto anhielt und Kreisleiter Buscher aus Aschendorf ausstieg. Er kam auf meine Eltern zu und begrüßte sie. da ich mich am anderen Ende der Wiese aufhielt, konnte ich den Beginn des Gespräches nicht hören. Als ich näher kam, hörte ich Folgendes:

Der Ortsgruppenleiter der NSDAP, Robben, war zur #Wehrmacht eingezogen worden. Nun müsse diese Aufgabe ein anderer übernehmen. Ich übertrage Ihnen, Herr Plaisier, dieses Amt mit sofortiger Wirkung. Ihre Frau übernimmt das Amt der Frauenschaft . Heute muss jeder Deutsche seine Pflicht erfüllen.“

Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit, die ich nie zuvor geahnt habe.

Biografie und Familienforschung

Neben der Biografie beschäftige ich mich auch mit Familienforschung. Seit Mitte der 1980er Jahre erforsche ich die Geschichte meiner Familie.

Alles begann mit einem Ahnenpass auf dem Dachboden meines Onkels in Aschendorf, einem Ortsteil von Papenburg. Die Jahre danach habe ich während meines Urlaubs in den Wohnzimmern von Pastoren gesessen und Kirchenbücher gewälzt. Ich habe viel gelernt, war gefesselt von kunstvoller Schrift und tragischen Familienereignissen. Inzwischen hat sich die Forschung durch das Internet weitgehend auf elektronische Quellen verlagert.

Mein Familienname lässt auf französische Wurzeln schließen, und so ganz falsch ist das auch nicht. Er hängt mit der französischen Besatzung Ostfrieslands durch napoleonische Truppen zusammen. Aus der ursprünglichen Suche in Ostfriesland und im Emsland hat sich ein #Stammbaum mit inzwischen über 16.000 Mitgliedern entwickelt, der bis in die USA reicht. Dazu kommen Fotos und persönliche Zeugnisse aus Briefen und Urkunden bis in die Zeit Karls des Großen.

Bei Interesse stelle ich gern einen Link zu meinem Familienstammbaum auf ancestry.com zur Verfügung.

Ein Albtraum

Mir träumte in der Nacht, dass ich wenige Tage vor der Veröffentlichung des Buches an einem Herzinfarkt verstorben sei. Im Text meines Vaters wird nur wenig gestorben, mal auf dem Schlachtfeld des Krieges, mal in einem der Emslandlager. Doch es ist alles sanft, seicht, für mich zu distanziert. So werde ich einigen Kapiteln des Originaltextes den Kommentar eines Experten hinzufügen. Es ist meine Aufgabe als Herausgeber, den Text nicht nur behutsam anzugleichen, sondern auch, wo notwendig, in den historischen Kontext zu stellen.

Es gibt Ostfriesland, und es gibt das Emsland…

Es gibt Ostfriesland, und es gibt das Emsland. Wenn ich heute dort hindurchfahre, sehe und spüre ich keine Grenze. Für meinen Vater war Ostfriesland das Paradies, das Emsland dagegen der Vorhof zur Hölle. Die Kapitelüberschriften machen das sehr deutlich: Er erzählt über die „Bockhorster Hexenjagd“ und erinnert sich „Heiden müssen draußen bleiben“. Da steht das liberale lutherische und lutherisch-reformierte Ostfriesland dem dogmatisch strengen katholischen Emsland gegenüber. Da wurde seine Mutter, meine Großmutter, der Hexerei beschuldigt – nicht im Mittelalter, sondern in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Da durfte mein Vater als Schüler evangelischen Glaubens nicht an der Beerdigung einer katholischen Mitschülerin teilnehmen.