Verlagsperlen bei Lehmanns: Der Open House Verlag reist mit Nicola Nürnberger von West nach Ost

Buchhandel lebt von der Liebe zum Buch und vom unermüdlichen Engagement Einzelner. Und so darf es auch mal gesagt werden, dass sich Lehmanns Media durch die Leselust und die Kontakte von Buchhändlerin Franka Schloddarick zum Indie-Flagschiff der Leipziger Buchhandlungen gemausert hat. Das findet Ausdruck durch Extratische, engagierte Beratung und im Veranstaltungsprogramm. Jeden letzten Dienstag im Monat heißt es in der Grimmaischen Straße: Vorhang auf für Verlagsperlen aus dem Indiebereich! Zur Programm-Sneak Preview im Mai hatte Verleger Rainer Höltschl vom Leipziger Open House Verlag die Hausautorin Nicola Nürnberger mitgebracht. Blogautoren Jasmin Beer und Detlef Plaisier waren dabei.

Open House LogoEin österreichischer Literaturwissenschaftler und eine niedersächsische Philosophin mit Visionen in Leipzig – das war vor dreieinhalb Jahren der Startschuss von Rainer Höltschl und Christiane Lang zu einem ungewöhnlichen, mutigen Verlagsprojekt. Schon die Namenswahl setzte Zeichen: „Open House“ sollte in eine verlegerische Lücke stoßen und in der Messestadt die Nähe zu Buchmesse, zum Deutschen Literaturinstitut DLL sowie zu den Hochschulen HTWK und HGB nutzen.

Bei Lehmanns plauderte Rainer Höltschl offen aus dem Nähkästchen und skizzierte die schwierige Anfangszeit, die Liebe zur Gestaltung und die determinierenden unternehmerischen Komponenten: Besaß das erste Buch aus dem Open House Verlag noch einen aufwendig gestalteten Schutzumschlag, Fadenbindung und eine eigene Typographie, so wird bei den Neuerscheinungen des Herbstprogrammes auf einen Schutzumschlag verzichtet – schließlich nehme den ja auch jeder ab, damit der Umschlag unversehrt bliebe (verstohlener Seitenblick beider Autoren: schuldig im Sinne der Anklage).

Verleger Rainer Höltschl mit Autorin Nicola Nürnberger bei Lehmanns. Foto: Detlef M. Plaisier
Verleger Rainer Höltschl mit Autorin Nicola Nürnberger bei Lehmanns. Foto: Detlef M. Plaisier

Dafür ist das Programm inzwischen breiter geworden. Vor zwei Jahren kündigten die Verleger drei Reihen an: „Reihe 1“ mit moderner und junger Literatur, dazu „Backup“ als Sammelbecken vergessener und verkannter Klassiker und „Seismograph“ für Sachbücher. Der Vorsatz, im Programm der „Reihe 1“ ausschließlich deutsche Schriftsteller sowie Übersetzungen aus dem Englischen und Norwegischen zu bündeln, bröckelt aktuell: Es laufen vielversprechende Gespräche mit einem Autor aus dem ehemaligen Jugoslawien. Da ist ein handfester Schuss Politik zu erwarten, was Verleger Höltschl durchaus begrüßt.

„Autoren wollen einen guten Vertrieb, jeder Vertrieb will gute Autoren“. Rainer Höltschl ist stolz, dass Open House den Sprung in den exklusiven Zirkel geschafft hat. Wie, das bleibt ebenso ein Geheimnis wie die genaue Auflagenhöhe der Publikationen. Bleibt die Frage, wie Open House neue Autoren rekrutiert. Talente sind schon früh umkämpft: Längst schöpfen auch Suhrkamp und Co. bei Veranstaltungen des DLL mögliche Hausautoren ab. Höltschl bleibt dran, geht zu Lesungen ins DLL und in Hausprojekte. Kleine Enttäuschung: Im gestalterischen Bereich ist die erhoffte Zusammenarbeit mit der HGB noch in den Kinderschuhen.

Quelle: www.openhouse-verlag.de
Quelle: www.openhouse-verlag.de

Manchmal hilft einfach auch der Zufall (oder für den, der nicht daran glaubt, die Vorsehung). So trafen sich auch Höltschl und der Hauptakt der Mai-Präsentation bei Lehmanns. Bei einer Preisverleihung trug Nicola Nürnberger einen Teil ihres späteren Romans „Westschrippe“ vor. Höltschl war sofort begeistert von diesem Blick auf die BRD vor der Wende. So viele Werke gab es schon über die DDR, aber kaum Berichte über den Westen in dieser Zeit. Nun liest Nicola Nürnberger aus ihrem zweiten Roman unter dem Titel „Berlin wird Festland“, in dem es die junge Protagonistin Christine Anfang der 1990er Jahre – ähnlich wie die Autorin selbst – nach dem Abitur von der hessischen Provinz nach Berlin verschlägt. Sie steht verloren in einer Großstadt, deren zwei Teile noch immer damit beschäftigt sind, sich zusammenzufinden. Natürlich gibt es eine kleine Liebesgeschichte, um die Handlung in Gang zu halten, sowie eine große Portion Berlinhype mit jeder Menge Anspielungen auf Kneipenlandschaft und teilweise noch heute touristenferne Orte. Die ausgesuchten Lesehappen vermitteln den Eindruck einer Jonglage aus Berliner Stereotypen und Spezifika wie den Durchsteckschlüssel, deren Beschreibungen sich vor allem auf Adjektive stützen.

Der Verlag hat Nicole Nürnberger in ihrem Schreibprozess durch ein intensives Lektorat unterstützt. Auch hier lobt Verleger Rainer Höltschl den leicht politischen Einschlag, denn im Verlagskonzept ist dies ebenso eine Facette wie der besondere Blick auf die Genderfrage. Frauen und Männer, so Höltschl, sollen gleichermaßen zu Wort kommen.

Open House hat sich viel vorgenommen: Aufwendig gestaltete Klassiker, neue deutsche und internationale Literatur, dazu Sachbücher, die sich mit Kunst, Medien und Zeitgeschichte auseinandersetzen sollen, und das alles am besten noch mit einer leicht politischen Note von Gender bis Ost-West-Problematik. Für einen jungen Verlag große Ansprüche. Höltschl komprimiert es ganz einfach: Schöne Bücher, die man auch liest.

www.openhouse-verlag.de
Nicola Nürnberger liest: https://www.youtube.com/watch?v=018KthpWSjM
Buch online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Berlin-wird-Festland-9783944122113

Rezension: Amber Dermont, In guten Kreisen

Was bewegt einen jungen Mann aus reichem Hause am Ende der 1980er Jahre? Die amerikanische Autorin Amber Dermont schickt ihre Hauptfigur Jason Prosper auf eine Reise zu sich selbst. Jason besucht die Bellingham Academy an der amerikanischen Ostküste, ein Internat für die Sprösslinge reicher Eltern. Die meisten Schüler treten arrogant, oberflächlich und egoistisch auf. Jason beschließt, sich auf die eine große Leidenschaft in seinem Leben zu konzentrieren: das Segeln – und muss sich schließlich damit auseinandersetzen, dass zwei Menschen sein Leben ordentlich durcheinanderwirbeln.

Quelle: www.mare.de
Quelle: www.mare.de

Boys will be boys
Jason und seine Mitschüler sind Teil der Elite Neuenglands. Auf ihnen lasten hohe Erwartungen, die sie durch allerlei und bisweilen wirklich böse Streiche und Raufereien erst einmal hinter sich lassen – die Academy ist ihr Revier, hier können die Jugendlichen sich austoben, bevor das vermeintlich harte Erwachsenenleben sie einholt. So zeichnet dieser Entwicklungsroman das Heranwachsen eines jungen Mannes auf, der sich den harten und gefühlsbetonten familiären wie schulischen Herausforderungen seines Lebens stellt, sich selbst kennenlernt und schließlich beginnt, ein vergangenes Trauma zu verarbeiten: Jasons Freund und Segelkumpan Cal hat Selbstmord begangen.
Der nüchterne Ton, in dem Jasons Gedankengänge wiedergegeben werden, erscheint vor diesem Hintergrund zunächst unstimmig. Allerdings stellt man als Leser schnell fest, dass diese Rationalität einfach auch einen Schutzwall darstellt, um nicht von den eigenen Gefühlen übermannt zu werden. Nicht nur die Vergangenheit macht Jason zu schaffen, auch die Eheprobleme seiner Eltern sowie seine eigene Sexualität hinterlassen Fragezeichen in ihm. Die eigensinnige Aidan verhilft Jason jedoch schließlich zu einem wahren Aufschwung, er schöpft Kraft aus ihrem gemeinsamen Miteinander.

Eine außerordentliche Sprache – mit Abstrichen
Sprachlich hat mich Amber Dermonts Roman mitgerissen, ihre Ausdrucksweise ist resolut, eindringlich, einfühlsam. Ich war mit Jason auf den Segelbooten, habe seine Leidenschaft gespürt, habe mit ihm gelitten, wenn er an seinen Freund Cal zurückdachte. Selbst die eigentlich als eher nüchtern erwartete Segelsprache wird von der Autorin so lebendig genutzt, dass der Fluss der Erzählung stets auf hohem Niveau bleibt und mich als Laien niemals verliert. Da ist es bedauerlich, dass viele Handlungen, Gedankengänge und Charakterzeichnungen zu oberflächlich bleiben. Hinzu kommt: Alle Geschehnisse hätten auch auf der Hälfte der Seiten stattfinden können, möglicherweise wäre so mehr Tempo in den Roman gekommen. Denn zu viel verliert sich einfach in „schöner Sprache“ und oberflächlichen Beschreibungen – so eben auch die Verbindung zu dem Innenleben des Protagonisten. Ein weiterer großer Stolperstein für mich: Amber Dermont nutzt oftmals nicht das so wichtige Prinzip des “Show – don´t tell!“: Der Leser erfährt, wie etwas ist – statt es Jason wirklich erleben und im Dialog besprechen zu lassen.

Hohe Wellen, die zu seicht brechen
Jason hat wenige Ecken und Kanten, er reibt sich noch zu selten an sich selbst, geht bis zum Ende fast nie aus sich heraus. Trotz einschneidender Ereignisse spult Amber Dermont Jasons Verhältnis zu seiner Familie recht kurz ab. Für mich als Leserin bleibt viel Fassade – immer wieder habe ich mich gefragt: Was steckt wirklich dahinter? Eine Frage, die auch am Ende nur im geringen Umfang beantwortet werden konnte. Im ganzen Buch explodiert dieser junge Mann, der von seiner Gefühlen durcheinander gebracht wird, nur ein einziges Mal. Und so passt es für mich nur teilweise, dass Jason an anderen wichtigen Punkten in seinem Leben fast gelangweilt und regelrecht passiv wirkt, selbst wenn ich den angesprochenen Schutzwall berücksichtige.

Mein Fazit
Trotz einer großartig bildhaften Sprache und gutem Potential hinsichtlich der Dramatik ist mir Amber Dermonts Roman „In guten Kreisen“ doch zu glatt und leise. Für mich als Leser wäre eine intensivere Auseinandersetzung mit einigen Figuren rund um Jason wünschenswert gewesen. Es gibt zahlreiche vorhersehbare Momente, der finale Turn kommt äußerst kurz daher. Und so verbleibe ich mit dem Fazit, dass dieses Werk für mich einen Lektor gebraucht hätte, der vor allen Dingen die Würze der Kürze (und das in ihrer geballten Intensität) herausgekitzelt hätte.

Amber Dermont, In guten Kreisen
Mare Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/In-guten-Kreisen-9783866481923
Autorin der Rezension: Kathrin Demuth

Rezension: Rolf Bauerdick, Pakete an Frau Blech

Rolf Bauerdick, geboren 1957 im Sauerland, studierte Germanistik und Katholische Theologie. Er arbeitet als Journalist und Fotograf und erhielt 2012 den Europäischen Buchpreis für seinen ersten Roman „Wie die Madonna auf den Mond kam“.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Vom Entwicklungsroman zur Agentenposse
Maik Kleine ist vierzehn, als er im Januar 1979 zusammen mit freigekauften politischen Häftlingen die Grenze von der DDR zur BRD in einem Bus überquert. Er hat keine Familie mehr und deshalb hatte ihn ein wohlmeinender Funktionär vor die Wahl gestellt, in der DDR in einem Heim zu leben oder zu seiner Tante nach Heidelberg überzusiedeln. (Mein, aus meiner Erfahrung als ehemalige DDR-Bürgerin und fünf Jahre später Ausgereisten, erwachsener Zweifel an diesem Akt eines Gutmenschen bestätigte sich im Laufe des Buches.) Doch auch in Heidelberg bei der Schwester seiner Mutter ist Maik kein Glück beschieden. So landet er schließlich doch in einem Internat, und zwar in einem katholischen, wo er, der Atheist, natürlich zunächst Anlaufschwierigkeiten hat. Doch er fügt sich ein, die Mitschüler und Lehrer sind human zu ihm, ein sympathischer Bruder nimmt sich seiner an. Maik hätte sicher auch das Abitur geschafft, wenn er nicht kurz zuvor dem Drang nachgegeben hätte, mit einem Zirkus, der gerade in der Stadt gastierte, weiterzuziehen. So wird die Zirkusfamilie seine neue Familie und der Zirkusdirektor fungiert als Ersatzvater.

Im ersten Teil des Buches wird zunächst abwechselnd aus dem Jahr 2007 und parallel aus dem Jahr 1978/79 erzählt. Tragische Vorkommnisse in Maiks Familie (der Vater starb – so vermutete nicht nur Maik lange – bei einem chemischen Experiment) scheinen miteinander verwoben zu sein. Diese wiederum führen zur Stasi und dem Zirkusdirektor, der in einer pittoresken Prozession zu Grabe getragen wurde und dessen Villa Maik „geerbt“ hat. Das Buch beginnt wie ein Entwicklungsroman, gespickt mit vielen Details, die ich aus meinem eigenen Leben in der DDR gut kannte. Und es hätte mir gefallen, hätte es der Autor dabei belassen. Doch Bauerdick hat Größeres vor. Nachdem weite Teile der Handlung im Zirkus spielen – ein Thema, das mich nicht so brennend interessierte – schlägt der Autor im letzten Drittel des Romans eine Volte zur Agentenposse, der manchmal schwer zu folgen ist. Es wird verwirrend. Viele berühmte Namen spielen eine Rolle. Was ist erfunden, was ist Realität? Ein Vexierspiel, das die Brücke zur Illusion der Zirkuswelt schlägt.

Mein Fazit: Viele Fragen und wenig Antworten
Wirklich glaubwürdig ist die Auflösung all der losen Enden nicht gelungen. Ich blieb unbefriedigt zurück. Hatte ich etwas übersehen oder nicht verstanden? Es hatte etwas Bemühtes, allzu Unglaubwürdiges an sich, wie der Autor die Verschwörungen und Scharaden zu erklären sucht. Viele Fragen bleiben bei mir offen: Warum hat Maiks Mutter keine Nachforschungen nach ihrem Sohn angestellt? Warum hat sie der Behauptung, er habe sich von ihr losgesagt, so kritiklos geglaubt? Und warum hat Maik selbst nicht früher Nachforschungen nach seiner Mutter angestellt? Trotz dieser Kritikpunkte und der vielen Wiederholungen empfehle ich das Buch weiter, nicht nur an Zirkusliebhaber und Stasierfahrene.

Rolf Bauerdick, Pakete an Frau Blech
DVA, München 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Pakete-an-Frau-Blech-9783421046451
Autorin der Rezension: Cornelia Lotter www.autorin-cornelia-lotter.de

Rezension: Marina Keegan, Das Gegenteil von Einsamkeit

Neun Geschichten, ein bewegender Aufsatz, acht Essays und eine derartig respektvolle Einleitung, dass man sie gleich zweimal lesen sollte: Daraus besteht Marina Keegans erstes Buch – es wird ihr einziges bleiben.

Zur Autorin
Marina Keegan, geboren in Boston 1989, starb mit 22 Jahren nur fünf Tage nach ihrer Abschlussfeier an der renommierten Yale University, so dass an der Stelle, an der auf das Leben des Autors zurückgeblickt wird, stattdessen gefragt werden muss: Was hätte Sie noch vorgehabt? Was erreicht? Als Studentin erhielt sie bereits mehrere Preise für ihre Texte, sie schauspielerte, war politisch engagiert. Ihre Stelle beim Magazin „The New Yorker“ konnte sie jedoch nie antreten.

Quelle: www.fischerverlage.de
Quelle: www.fischerverlage.de

Von Coming of Age zu großen Gedanken
In vielen der Kurzgeschichten und letztendlich dem namensgebenden Aufsatz, „ Das Gegenteil von Einsamkeit“ hat Marina Keegan das Gefühl des langsamen Erwachsenwerdens und der damit verbundenen Probleme eingefangen. Auf ein Plädoyer für Lebensfreude, die Bewahrung des „Geistes der Möglichkeiten“, folgt eine Geschichte über junge Liebe, lose Bande und die Konfrontation mit plötzlichem Tod. Ohne Pathos, aber dafür mit einer klaren, frischen Sprache erschafft die Autorin lebendige Figuren mit Tiefe, die immer wieder an Scheidewege gelangen, plötzlich aus ihrer Welt, ihrem Alltag herauskatapultiert werden. Schnell verlassen die Geschichten den Kosmos der jugendlichen und leicht abgeschotteten Campus-Welt, widmen sich alternden Tänzerinnen, die nackt aus Gebrauchsanweisungen vorlesen und schildern das Grauen vom Gefangensein in den Tiefen des Ozeans. In ihren Essays erzählt Marina Keegan humorvoll über ihre besorgte Mutter, die ihre Kindheit mit Gluten freien Eiswaffeln und Fürsorge beschwerte, und betrachtet das Phänomen, warum so viele Yale-Absolventen im Consulting oder Finanzsektor landen. Keegan probiert sich mutig in jedem Text an einer neuen Erzählweise aus.

Interessante Sachen
An eine ihrer Dozenten schrieb Marina Keegan einmal, sie würde in einem Notizbuch „interessante Sachen“ sammeln: Beschreibungen und Formulierungen, die sie akribisch niederschrieb und für ihre Geschichten und Essays verwendete. Diese Neigung zur Sprache und zur aufmerksamen Beobachtung durchzieht jede ihrer Geschichten und so schafft sie es mit wenigen – eigenen – Worten, ihren Figuren Authentizität und einen ganz besonderen Charakter zu verleihen. Dabei liegt der Fokus insbesondre auf dem Zwischenmenschlichen, ohne dass die Texte in theatralische Phrasen abrutschen. Marina Keegan besaß ein besonderes Gespür für aktuelle Themen, betrachtete die Zukunft ihrer Generation ohne rosarote Brille. Sie bleibt dennoch nicht an diesem Punkt stehen, sondern geht thematisch von ihrer eigenen Vergangenheit bis zur Überlegung, wie die Zukunft der Menschheit aussehen könnte. Das ganze Buch liest sich wunderbar frisch und gleichzeitig schwebt darüber stetig die Tragik eines viel zu frühen Todes.

Mein Fazit
Ich habe mich immer wieder gefragt, ob Marina Keegan später einen der großen Romane unserer Zeit geschrieben hätte, obwohl die Antwort immer offen bleiben wird. Ich empfehle das Buch weiter, denn es lebt nicht von einem schockierten Flüstern über den Tod eines jungen Menschen, sondern von Keegans origineller Erzählweise, die noch keine feste Schiene gefunden hat, von Ehrlichkeit und dem persönlichen Charme, der in jeder Geschichte mitschwingt.

Marina Keegan, Das Gegenteil von Einsamkeit
S. Fischer, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Gegenteil-von-Einsamkeit-9783100022769
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

Rezension: Thomas Bannerhed, Die Raben

Ein kleiner Hof im schwedischen Småland ist die Heimat des zwölfjährigen Klas, seiner Eltern und seines Bruders Göran. Eigentlich eine Umgebung, die mit unbeschwerter Kindheit, schöner Landschaft und freundlichen Menschen in Verbindung gebracht wird. Doch das Bild, das Thomas Bannerhed in „Die Raben“ zeichnet, könnte gegensätzlicher nicht sein.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Wenn ich ein Vogel wär…

Klas ist ein passionierter Vogelbeobachter. Er weiß alles über die Arten, die in den Wäldern und Wiesen rund um den Hof leben. Besonders faszinieren ihn die Raben, stundenlang könnte er ihnen zusehen – und dabei die Realität vergessen. Und die ist alles andere als idyllisch: Der Vater, durch die schwere Arbeit mit dem Hof überfordert, gleitet immer in den Wahnsinn ab. Klas selbst, als ältester Sohn auf dem Hof besonders verpflichtet, fühlt sich der körperlichen Arbeit nicht gewachsen. Je weiter die Krankheit des Vaters fortschreitet, desto mehr hat auch Klas das Gefühl, dem Irrsinn anheim zu fallen. Er wird zum Bettnässer, träumt mehrfach davon, dass der Hof abbrennt, sieht sich von einem „Schwarzen Auge“ verfolgt und hört eine Stimme, die ihm Befehle erteilt. Auch die Hoffnung auf eine unbeschwerte Romanze mit Veronika erfüllt sich nicht. Auf dem elterlichen Hof häufen sich die seltsamen Ereignisse, sodass der Schluss des Buches nur die logische Konsequenz der Geschichte ist.

Nicht ganz einfache Poesie

Thomas Bannerhed gibt Klas‘ Sinneseindrücke mit großer Detailtreue wieder. Dabei bedient er sich eines poetisch anmutenden Sprachstils, der wie ein verbaler Weichzeichner wirkt. So wird die Landschaft Schwedens lebendig; ja, die Vögel singen und die Flüsse rauschen, und alle Gerüche, Gefühle und Geschmäcker vermitteln sowohl vom Umfeld als auch von den Charakteren ein individuelles Bild. Aber genau diese Detailverliebtheit macht es auch ein wenig verwirrend, dem Buch zu folgen, werden doch äußere und innere Eindrücke immer wieder vermischt. „Die Raben“ will konzentriert und nicht nebenbei gelesen werden. Die Sprache mit ihren plastischen Darstellungen regt die Phantasie an und verliert sich gleichzeitig in dieser. So ist dieses Buch sprachlich eher dem anspruchsvolleren Teil der Literatur zuzurechnen.

Mein Fazit

Wer gern opulente Sprachbilder mag, sich gern der eigenen Phantasie hingibt und noch dazu die Langsamkeit schätzt, die den nordischen Romanen zu eigen ist, der findet mit den „Raben“ ein anspruchsvolles Stück Literatur. Die ständige Vermischung von Träumen und Gedanken des Protagonisten mit der Realität machen es zu einem guten Stück Arbeit, der Handlung zu folgen. Zu oft habe ich den Eindruck, dass Klas‘ Gedanken und Gefühle eher einem erwachsenen Hirn entspringen als dem eines Zwölfjährigen. Damit wirkt das Buch als ein Versuch des Autors, wieder Kind zu werden und doch nicht aus seiner Haut – und seinen Formulierungen – entfliehen zu können. Dieser Umstand macht es, selbst bei einer Vorliebe für nordische Autoren, nicht zwingend zu einem Buch, das man gelesen haben muss.

Thomas Bannerhed, Die Raben
btb, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Raben-9783442753925
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Odette Dressler, Sex der dein Leben verändert

Reißerisch preist der pinke Taschenbucheinband an, 25 wahre Bettgeschichten über Life-Changing Sex zu enthalten. Oha. Ich bin gespannt und hoffe auf ein ähnlich prickelndes Lesevergnügen wie bei Henry Millers „Opus Pistorum“. Doch statt Lust zu bekommen, mir die Kleider vom Leib zu reißen, will ich mir schon nach ein paar Seiten einfach nur noch die Haare raufen.

Quelle: www.edel.com
Quelle: www.edel.com

Fick mich, Baby

Odette Dressler versammelt in ihrem Debüt 25 Geschichten darüber, wie Sex unser Leben verändern kann. Zweimal schreibt sie über eigene Erlebnisse, die anderen 23 Mal versucht sie das, was andere Frauen ihr erzählt haben, prosaisch zu Papier zu bringen. Life-Changing Sex, so kündigt die Autorin bereits im „Vorspiel“ genannten Vorwort an, ist nicht immer der atemberaubend gute, unvergessliche Sex. Entsprechend mischen sich unter die Geschichten über orgastische Explosionen auch solche über erzwungenen Beischlaf, käufliche Liebe oder einen schnöden One-Night-Stand, der eine unverhoffte Schwangerschaft nach sich zieht. Trotz dieser thematischen Vielfalt bleibt der Stil Dresslers recht einheitlich. Eine mehr oder minder detaillierte Schilderung des Aktes scheint ihr in jeder Geschichte obligat, ebenso die Verwendung des Wortes „ficken“ und des Kosenamens „Baby“. Die vulgärsprachliche Copy-and-Paste-Manier wirkt vor allem in den Geschichten verstörend, welche vom Grundtonus her romantisch angelegt sind. Umgedreht wirkt es etwas lächerlich, wenn Dressler selbst die offensichtlichen Schlampen im Buch ihr Geschlechtsorgan als ihr „Heiligstes“ bezeichnen lässt. Die Vielfalt der Geschichten wie auch der Frauen verschwimmt im verbalen Einheitsbrei, so dass ich irgendwann nur noch die zugekleisterte, Highheels tragende Klischee-Tussi vor mir sehe und an den alten Sermon von „Voll Assi Toni“ denken muss.

Ausschweifung an den falschen Stellen

Natürlich gibt es Ausnahmen. Vereinzelte Sätze sind nicht völlig unoriginell und hin und wieder wirken die Akteure auch sympathisch. Wie etwa in der Geschichte über Rainer und Moni, welche beide ihre Unschuld aneinander verloren und sich erst 30 Jahre später wieder begegnen. Doch auch hier hemmt der Erzählstil das Lesevergnügen. Die Beschreibung des Liebesaktes („Bevor er kam, zog er seinen Penis aus mir heraus und drehte sich auf die Seite. Trotzdem landete ein Schuss seines Spermas direkt in meinem Bauchnabel.“) wirkt in der sonst eher melancholisch-romantisch gehaltenen Erzählung fehl am Platz. Wichtige Informationen vermisse ich (Warum sind sie sich denn nach diesem tollen Erlebnis 30 Jahre nicht mehr begegnet?), andere finde ich überflüssig (Zitat!). Diese wie auch andere Geschichten sind zu brüchig erzählt, um berührend, und zu langatmig und platt, um erotisch zu sein. Nach ellenlangem „sexlosem“ Vorgeplänkel geht es ganz plötzlich zur Sache, und ebenso abrupt endet dann auch die Geschichte.

Mein Fazit

Es ist nicht leicht über Erotik zu schreiben – und dann auch noch über Erotik mit Tiefgang. Ich konnte dem Buch weder Lust noch Erleuchtung abgewinnen. Und aufgrund des billig wirkenden Einbands kann ich es nicht mal als Deko im Bücherschrank empfehlen.

Odette Dressler, Sex der dein Leben verändert
Eden Books, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Sex-der-dein-Leben-veraendert-9783944296920
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Jean-Baptiste Del Amo, Das Salz

Der französische Autor Jean-Baptiste Del Amo, Jahrgang 1981, wurde für seinen Debütroman „Die Erziehung“ 2009 mit dem „Prix Goncourt du Premier Roman“ ausgezeichnet.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Der Inhalt
Der Epilog schildert Sequenzen aus der Sicht einiger Figuren des Romans. Zu Armand, dem Mann, um den sich die Erinnerungen aller Personen in diesem Roman drehen, heißt es: „So ist es nun mal, die Lebenden verformen das Gedächtnis der Toten, nie sind sie weiter von ihrer Wahrheit entfernt.“ Wer ist also dieser Armand, der verstorbene Mann von Louise, die für ihre Kinder und deren Familien ein Essen ausrichten will, wirklich?

Armand wird jeweils aus den verschiedenen Perspektiven der Kinder und seiner Ehefrau geschildert, und von ihm wird gesagt: „Armand konnte nicht Vater sein…“ (S. 72). Geschildert werden all jene Dinge, die schon vielfach in der Literatur beschrieben wurden: Missachtung, psychische und physische Gewalt, Ignoranz und Abwesenheit. Der Autor vermag es jedoch nicht, die Figuren und das Zusammenleben mit ihrem Vater für mich so interessant werden zu lassen, dass mich ihr Schicksal wirklich berührte. Weder die drei Kinder und deren Angehörige noch Louise wecken mein Interesse. Oft erzählt Del Amo ein Ereignis aus den verschiedenen Perspektiven der handelnden Personen doch diese Wiederholungen waren für mich einfach nur langweilig. Ich hätte mir den Verzicht auf zu schnellen Perspektivwechsel gewünscht und dafür den Mut, sich auf eine Figur tiefer einzulassen.

Die Form
Der erste Teil, Nona, ist stringent komponiert. Die einzelnen (oft sehr kurzen) Kapitel sind mit dem Namen des jeweiligen Perspektivträgers versehen.

Im zweiten Teil, Decima, geht es wild durcheinander. Die Perspektiven springen, manchmal inmitten eines einzelnen Absatzes, zwischen verschiedenen Personen hin und her, was mich extrem gestört hat.

Während die Erzählzeit im ersten Teil fast durchgängig Präteritium ist, wechselt der Autor im Rest des Buches munter zwischen Perfekt, Präsens und Imperfekt. Manchmal wird ein Satz in der Vergangenheit begonnen und ohne ersichtlichen Grund im Präsens beendet. Ob dies ein Problem der Übersetzung ist?

Dem Lektorat/Korrektorat sind einige Mängel vorzuwerfen. Es finden sich Sätze wie: „Kurz nach der Geburt von Jonas‘ (der Apostroph ist hier völlig fehl am Platze) sind sie einmal zum Hafen hinuntergegangen waren, …“ (S. 90) oder als vorletzten Satz des Buches: „Sie scheint ihnen eigenartig stark und unverwüstlich vor.“ (S. 298). Solche groben Fehler darf es höchstens bei einem Erzeugnis aus dem Berg des Selfpublishingmülls geben.

Eigenwillig auch die Art, wörtliche Rede anzuzeigen. Es werden keine Anführungszeichen verwendet, sondern am Anfang der entsprechenden Zeile wird ein Bindestrich gesetzt.

Mein Fazit
Was die auf der Umschlagseite zitierte Huldigung von Julien Bisson „Auf halbem Weg zwischen Patrick Süskind und dem Marquis de Sade…“ mit dem Buch zu tun haben soll, hat sich mir nicht erschlossen. Auch der Ursprung des Buchtitels „Das Salz“ bleibt im Dunkeln.

Von mir gibt es nur eine sehr bedingte Leseempfehlung. Ich fand das Buch zähflüssig und wenig originell. Der sehr eigenwillige Umgang mit der deutschen Sprache hat mich mehr als einmal aus der ohnehin nicht sehr spannenden Handlung herauskatapultiert.

Jean-Baptiste Del Amo, Das Salz
Btb Verlag, München 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Salz-9783442747566
Autorin der Rezension: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de

Rezension: Bill Bryson, Sommer 1927

Wann begann das amerikanische Jahrhundert tatsächlich? In der offiziellen Geschichtsschreibung stellt der Kriegseintritt – vor allem in den Zweiten Weltkrieg – den wichtigsten Wendepunkt dar. In seinem Roman „Sommer 1927“ stellt Bill Bryson hingegen die gewagte These auf, dass sich die wichtigen Ereignisse, die den USA den Weg zur dominierenden Macht (zumindest in der westlichen Welt) ebneten, im Jahr 1927 ereigneten.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Was geschah im Sommer 1927?
Die Rahmenhandlung für Bill Brysons historische Anekdotensammlung bildet der erfolgreiche Transatlantikflug von Charles Lindbergh. Der Pilot war vom 20. auf den 21. Mai 1927 nonstop von New York nach Paris geflogen und absolvierte anschließend eine Tournee durch die USA, um in der Bevölkerung die Begeisterung für die Luftfahrt zu wecken. Später wurde der Nationalheld jedoch eher zur Persona non grata, als er sich während des Zweiten Weltkriegs dafür aussprach, die USA sollten nicht in den Krieg eintreten, sondern sich mit den neuen Machtverhältnissen in Europa arrangieren.

In diese Rahmenhandlung eingestreut erzählt Bryson anekdotenhafte Ereignisse, die sich 1927 ebenfalls zutrugen und mehr oder weniger als das Erwachen des US-amerikanischen Selbstbewusstseins betrachtet werden dürfen. Die Bandbreite dieser Erzählungen reicht von Babe Ruths Rekordsaison für die New York Yankees über die Einweihung des Mount Rushmore durch Calvin Coolidge, der politisch in erster Linie durch Nichtstun auffiel, bis hin zu den Anfängen des Tonfilms und Fernsehens.

Mensch und Geschichte
Die historischen Fakten – obwohl korrekt und ausführlich recherchiert, wie der umfangreiche Anhang zeigt – spielen für Bill Bryson nur eine untergeordnete Rolle. Er erzählt seine Geschichte(n) anhand der Ereignisse, in welche die Akteure verwickelt sind. Er schildert die Personen und Handlungsstränge augenzwinkernd, oft mit einem ironischen Unterton. Und genau das macht seine Schilderungen des Sommers von 1927 lebendig und den Leser neugierig darauf, sich näher mit den Einzelheiten zu befassen. Zudem erläutert Bill Bryson die Zusammenhänge kurz und prägnant, auch wenn sie in einem zeitlichen Zusammenhang von einem halben Jahrhundert gesehen werden müssen.

Mein Fazit
Bill Bryson beweist mit „Sommer 1927“, dass es einfach nur Spaß machen kann, sich mit historischen Themen und Zusammenhängen zu befassen. Durch seine Herangehensweise wirkt Geschichte lebendig. Bryson macht den Leser neugierig, und das ist gut so…

Bill Bryson, Sommer 1927
Goldmann Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Sommer-1927-9783442301232
Autor der Rezension: Harry Pfliegl