Rezension: Marina Keegan, Das Gegenteil von Einsamkeit

Neun Geschichten, ein bewegender Aufsatz, acht Essays und eine derartig respektvolle Einleitung, dass man sie gleich zweimal lesen sollte: Daraus besteht Marina Keegans erstes Buch – es wird ihr einziges bleiben.

Zur Autorin
Marina Keegan, geboren in Boston 1989, starb mit 22 Jahren nur fünf Tage nach ihrer Abschlussfeier an der renommierten Yale University, so dass an der Stelle, an der auf das Leben des Autors zurückgeblickt wird, stattdessen gefragt werden muss: Was hätte Sie noch vorgehabt? Was erreicht? Als Studentin erhielt sie bereits mehrere Preise für ihre Texte, sie schauspielerte, war politisch engagiert. Ihre Stelle beim Magazin „The New Yorker“ konnte sie jedoch nie antreten.

Quelle: www.fischerverlage.de
Quelle: www.fischerverlage.de

Von Coming of Age zu großen Gedanken
In vielen der Kurzgeschichten und letztendlich dem namensgebenden Aufsatz, „ Das Gegenteil von Einsamkeit“ hat Marina Keegan das Gefühl des langsamen Erwachsenwerdens und der damit verbundenen Probleme eingefangen. Auf ein Plädoyer für Lebensfreude, die Bewahrung des „Geistes der Möglichkeiten“, folgt eine Geschichte über junge Liebe, lose Bande und die Konfrontation mit plötzlichem Tod. Ohne Pathos, aber dafür mit einer klaren, frischen Sprache erschafft die Autorin lebendige Figuren mit Tiefe, die immer wieder an Scheidewege gelangen, plötzlich aus ihrer Welt, ihrem Alltag herauskatapultiert werden. Schnell verlassen die Geschichten den Kosmos der jugendlichen und leicht abgeschotteten Campus-Welt, widmen sich alternden Tänzerinnen, die nackt aus Gebrauchsanweisungen vorlesen und schildern das Grauen vom Gefangensein in den Tiefen des Ozeans. In ihren Essays erzählt Marina Keegan humorvoll über ihre besorgte Mutter, die ihre Kindheit mit Gluten freien Eiswaffeln und Fürsorge beschwerte, und betrachtet das Phänomen, warum so viele Yale-Absolventen im Consulting oder Finanzsektor landen. Keegan probiert sich mutig in jedem Text an einer neuen Erzählweise aus.

Interessante Sachen
An eine ihrer Dozenten schrieb Marina Keegan einmal, sie würde in einem Notizbuch „interessante Sachen“ sammeln: Beschreibungen und Formulierungen, die sie akribisch niederschrieb und für ihre Geschichten und Essays verwendete. Diese Neigung zur Sprache und zur aufmerksamen Beobachtung durchzieht jede ihrer Geschichten und so schafft sie es mit wenigen – eigenen – Worten, ihren Figuren Authentizität und einen ganz besonderen Charakter zu verleihen. Dabei liegt der Fokus insbesondre auf dem Zwischenmenschlichen, ohne dass die Texte in theatralische Phrasen abrutschen. Marina Keegan besaß ein besonderes Gespür für aktuelle Themen, betrachtete die Zukunft ihrer Generation ohne rosarote Brille. Sie bleibt dennoch nicht an diesem Punkt stehen, sondern geht thematisch von ihrer eigenen Vergangenheit bis zur Überlegung, wie die Zukunft der Menschheit aussehen könnte. Das ganze Buch liest sich wunderbar frisch und gleichzeitig schwebt darüber stetig die Tragik eines viel zu frühen Todes.

Mein Fazit
Ich habe mich immer wieder gefragt, ob Marina Keegan später einen der großen Romane unserer Zeit geschrieben hätte, obwohl die Antwort immer offen bleiben wird. Ich empfehle das Buch weiter, denn es lebt nicht von einem schockierten Flüstern über den Tod eines jungen Menschen, sondern von Keegans origineller Erzählweise, die noch keine feste Schiene gefunden hat, von Ehrlichkeit und dem persönlichen Charme, der in jeder Geschichte mitschwingt.

Marina Keegan, Das Gegenteil von Einsamkeit
S. Fischer, 2015
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Autorin der Rezension: Jasmin Beer