Rezension zu Oliver Kuhn: Alles, was man wissen muss in 140 Zeichen

Die Bemühungen, das aktuelle Wissen der Menschheit kurz und prägnant zu präsentieren, sind vermutlich noch älter als die schriftliche Form der Wissensübermittlung. Und die Gier nach Allgemeinbildung scheint im Zuge von Erfolgssendungen wie „Wer wird Millionär?“ sogar noch gestiegen zu sein. Diesen Anspruch überträgt Oliver Kuhn mit seinem Werk „Alles, was man wissen muss in 140 Zeichen“ auf eine erfrischende Weise in die Gegenwart. Darauf weist auch der Untertitel „Umfassende Allgemeinbildung in Twitter-Länge“ hin, weil in diesem Kurznachrichtendienst maximal Posts mit einer Länge von 140 Zeichen verschickt werden können.

Quelle: www.m-vg.de
Quelle: www.m-vg.de

Von Pontius bis Pilatus und noch viel weiter
Oliver Kuhn präsentiert in seinem Buch kurze Informationshäppchen über die Geschichte der Menschheit, die hellen und dunklen Kapitel der vergangenen 2.000 Jahre und kulturelle Errungenschaften des Menschen. Dabei erhebt der Autor nicht den Anspruch, den Leser selbst umfassend informieren zu wollen. Vielmehr will er seinem Gegenüber Anregungen geben, den persönlichen Wissensschatz in Eigenregie zu erweitern. Dabei fällt wohltuend auf, dass Oliver Kuhn sich vom Kanon der europäischen Geschichtsschreibung entfernt und beispielsweise auch die Wiege der Menschheit oder die Neue Welt mit ihrer Vorgeschichte in eigenen Kapiteln würdigt.

Der Stil: Kurz und prägnant
Der Autor präsentiert seine Informationshäppchen gemäß der Absicht, Wissen in 140 Zeichen präsentieren zu wollen, eher im Stil von Schlagzeilen. Das mag zwar zunächst etwas gewöhnungsbedürftig erscheinen, regt den Leser aber dennoch dazu an, sich tiefergehend mit dem einen oder anderen Thema des Buches auseinanderzusetzen. Kuhn ergänzt seine Häppchen durch einführende Vorworte zu den einzelnen Kapiteln. Dadurch wird es dem Leser erleichtert, den Inhalt in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, sich weitergehend zu informieren oder – bei Desinteresse – das jeweilige Kapitel zu ignorieren.

Mein Fazit
Mit „Alles, was man wissen muss in 140 Zeichen“ ist Oliver Kuhn eine amüsante Parodie auf die angeblich notwendige, breit gefächerte Allgemeinbildung gelungen. Es macht Spaß, immer wieder in dem Werk zu schmökern und die eine oder andere Information weitergehend zu recherchieren. So entstand ein kurzweiliges Werk für Leser, die ihr Allgemeinwissen testen oder erweitern wollen.

Oliver Kuhn: Alles, was man wissen muss in 140 Zeichen
riva Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Alles-was-man-wissen-muss-in-140-Zeichen-9783868837049
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Boris Fishman, Der Biograf von Brooklyn

Ist es ein Schelmenroman? Oder vielleicht ein Sittengemälde über das New York des 21. Jahrhunderts? Oder vielleicht doch eine Neuinterpretation des American Dream? All das mag man in Boris Fishmans Debüt auf der großen literarischen Bühne hineininterpretieren. Doch im Grunde macht er nur eines: eine mit Komik und skurrilen Situationen gespickte Geschichte mit einem Schuss Realität zu garnieren, sodass der Leser nur ungern das Wort ENDE am Schluss liest.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Wie aus einem Loser ein Betrüger wird
Eigentlich ist Slava Gelman ein kompletter Loser: Trotz aller Bemühungen schafft er es nicht, aus dem Nachwuchs-Pool der Zeitschrift Century in den erlesenen Kreis der Stammautoren aufzusteigen. Und auch der Kontakt zur Familie im jüdisch geprägten Teil Brooklyns beschränkt sich auf ein Minimum, sodass Slava Gelman auch keine allzu erfüllte Freizeit hat. Das ändert sich erst, als seine Großmutter Sofia stirbt. Bedauerlicherweise hat just ein paar Tage zuvor die Konferenz für jüdische Schadensersatzansprüche gegen Deutschland die Familie angeschrieben. Die Kommission will herausfinden, ob Sofia möglicherweise eine Entschädigung für die Zeit des Nationalsozialismus zusteht. Und weil der Enkel ja schließlich so etwas wie ein Schriftsteller ist, bittet Slavas Großvater ihn darum, die Geschichte der jüdischen Familie aufzuschreiben, um eine Entschädigung zu erhalten.

Slavas Brief ist zwar herzzerreißend und erregt Mitleid, entspricht aber in keiner Weise den Tatsachen. In den folgenden Tagen kann sich Slava vor Anfragen aus der Bekanntschaft – allesamt russische Juden – nicht mehr retten. Doch dann droht der Schwindel aufzufliegen. Slava entschließt sich zu einer Lüge, welche die vorherigen Unwahrheiten relativiert, jedoch sein Leben aus den Fugen geraten lässt.

Ein Feuerwerk an skurrilen Situationen
Boris Fishman gibt in seinem ersten Roman einen facettenreichen Einblick in den von russischstämmigen Juden geprägten New Yorker Stadtteil Brooklyn. Dabei bedient der Autor auch so manche klischeehafte Vorstellung, jedoch stets mit einem Augenzwinkern. Damit wird das Lesen über die kleinen Tricksereien, die das Leben etwas einfacher machen, zu einem Vergnügen. Der Leser erhält so einen heiter-leichten Zugang zu einem dunklen Kapitel der jüngeren Geschichte.

Fazit
Mit „Der Biograf von Brooklyn“ präsentiert der Autor das zentrale Thema, die Verfolgung der Juden durch Nazis und Stalinisten, aus einem gänzlich anderen Blickwinkel als die meisten Autoren. Dass er trotzdem authentisch bleibt, verdankt er der eigenen Biographie: Boris Fishman wurde in Minsk geboren und kam als Neunjähriger in die USA. Insgesamt ist das Werk eine der wohl interessantesten Neuerscheinungen zu diesem sensiblen Thema.

Boris Fishman: Der Biograf von Brooklyn
Karl Blessing Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Biograf-von-Brooklyn-9783896675514
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Erste Vorfreude auf die Leipziger Buchmesse 2016: Die Welt zu Gast bei Lehmanns

Bücherfreunden legt Lehmanns noch mal eben etwas Vorfreude unter den Baum: Schon jetzt steht das Leseprogramm zur Leipziger Buchmesse vom 17. bis 20. März 2016 fest. Dabei gibt es gleich zwei Premieren.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Erster Debutant ist Dominique Horwitz, Jahrgang 1957. Der Schauspieler, Regisseur und Sänger ist unter anderem bekannt durch „Der große Bellheim“) und Engagements am Thalia-Theater in Hamburg, am Berliner Ensemble und am Schauspielhaus Zürich. Seine Ehefrau führte ihn nach Weimar, wo er nun lebt, dreht, inszeniert und schreibt. So ist es keine Überraschung, dass sein erster Roman „Tod in Weimar“ heißt. Aufklärung gibt’s am Donnerstag, 17. März ab 20:15 Uhr.

Seine „Wanderungen durch die Weltgeschichte“ dokumentiert Manuel Andrack „Schritt für Schritt“. Es geht auf 16 Touren unter anderem gen Rom, in die Sächsische Schweiz und rund um den Thunersee. Der Autor gewann zweimal zusammen mit Harald Schmidt den Deutschen Fernsehpreis. Heute arbeitet er als Produzent, Moderator und Autor für Magazine, Bücher und seinen Blog. Die Wanderung startet am  Freitag, 18. März um 20:15 Uhr.

Das zweite Debut gehört Dora Heldt. Die gelernte Buchhändlerin aus Hamburg stellt ihren Kriminalroman „Böse Leute“ vor. Einbruch, zwei Tote und ein dunkles Familiengeheimnis – und das alles auf Sylt. Aufgeklärt wird durch ein Rentnerquartett, das eigentlich ein bequemes Leben haben könnte. Ermittlungsbeginn: Samstag, 19. März ab 20:15 Uhr.

Der letzte Tag der Buchmesse gehört „Lehmanns Familienlesesonntag“. Von 13 bis 18 Uhr lesen unter anderem die Jungautorinnen Daniela Pusch, Elisabeth Denis und Lara DeSimone mit ihren Mentoren Rita Falk und Stefan Valentin Müller. Amanda Koch entführt Kinder ab sechs Jahre in die „Sternenwelt“ zum kleinen Stern Sirrah, und Andrea Schomburg zeigt Leseanfängern, wie das ABC-Lernen Spaß macht. Besonderer Tipp: Stefanie Gerstenberger und Marta Martin, Mutter und Tochter, haben gemeinsam einen Generationenroman geschrieben. „Zwei wie Zucker und Zimt“ ist aber auch für Väter geeignet.

Karten können unter www.lehmanns.de reserviert werden.

Danke für ein erfolgreiches Jahr – gewinnt ein Buch!

Auch für Blogger heißt es gegen Ende des Jahres Bilanz zu ziehen.

Ich danke für 30.800 Aufrufe im Jahr 2015, Kommentare und anregende Diskussionen zu den veröffentlichten Rezensionen.

Danke an alle Autoren für ihre Zeit und ihre Begeisterung.

Schule BockhorstZum Dank soll es für alle, die mich lesen und mir folgen, noch ein ‪#‎Gewinnspiel‬ zu ‪#‎Weihnachten‬ geben. Ich verlose zweimal je ein Exemplar meiner Biografie „Bubis Kinnertied“. Und da das Buch noch nicht erschienen ist, gibt’s einen Gutschein, der sofort nach Erscheinen eingelöst werden kann, natürlich gerne mit Wunschwidmung.

Wer in den Lostopf hüpfen will, sagt mir bitte auf meiner Autorenseite auf Facebook unter dem Gewinnspiel-Post (nur dort!) etwas zum Thema „Biografie“. Zum Beispiel: Was ist daran so Besonderes? Welche stehen bei euch im Bücherregal? Und wen würdet ihr gerne mal persönlich kennenlernen?

Das Gewinnspiel endet mit der letzten Sekunde des Jahres 2015.

Viel Erfolg und Danke für euer Interesse! Auf ein tolles Jahr 2016 mit vielen spannenden Leseentdeckungen!

https://www.facebook.com/autor.detlefplaisier

Meine Leseempfehlungen 2015: 12 Titel und ein Buch für Weihnachten

Genauer gesagt: Es sind Lesempfehlungen des Jahres 2015 von Autoren, die für meinen Blog rezensiert haben. Allen sage ich ein herzliches Dankeschön für die investierte Zeit und die ehrlichen, einfühlsamen Beurteilungen. Auch 2016 wünsche ich uns allen viel Lesevergnügen!

Hinweis: Die folgende Reihenfolge ist keine Rangfolge. Die Bildrechte der Cover liegen bei den Verlagen.

Mihailescu_GuterMannMittelfeld_P02DEF.inddTIPP 1: Andrei Mihailescu, Guter Mann im Mittelfeld (Hanser)
„Das Buch führt uns vor Augen, dass es keinen Grund gibt, als Europäer auf andere Erdteile herabzublicken. Ist es doch gar nicht so lange her, als vor unserer Haustür selbst Terror-Regime an der Macht waren. Eine unbedingte Leseempfehlung!“

TIPP 2: E. L. Doctorow, In Andrews Kopf (Kiepenheuer & Witsch)
„Ein Buch für alle, die mit schöner regelmäßigkeit an ihrem verstand zweifeln – und gerade deswegen in den Kopf anderer eintauchen möchten.“

TIPP 3: Vladimir Sorokin, Telluria (Kiepenheuer & Witsch)
„Wer bereit ist, sich auf radikale Stilwechsel einzulassen, sich nicht vor einer düsteren Zukunftsprognose fürchtet und Verständnis für die russische, oft etwas melancholische Seele hat, der wird Telluria lieben.“

TIPP 4: Ester Verhoef, Gegenlicht (btb)
„Selten habe ich ein so tief- und nahegehendes Psychogramm einer Persönlichkeit gelesen.“

TIPP 5: Tilman Strasser, Hasenmeister (Salis Verlag)
„Eine Empfehlung für all jene, die sich gern in die Abgründe der menschlichen Psyche versenken – und darin untergehen.“

Sedano Örtchen CoverTIPP 6: Nina Sedano, Happy End. Die stillen Örtchen dieser Welt (Eden Books)
„Klolektüre vom Feinsten und dennoch zu schade für einen Standort auf dem Abort.“

TIPP 7: Thomas Brussig, Das gibt’s in keinem Russenfilm (S. Fischer)
„Ein unbedingt empfehlenswertes, weil originelles Buch, mit selbstironischem Augenzwinkern und getragen von großer Fabulierkunst.“

TIPP 8: Bill Bryson, Sommer 1927 (Goldmann)
„Bill Bryson beweist, dass es einfach nur Spaß machen kann, sich mit historischen Themen und Zusammenhängen zu befassen.“

Cover HoneydewTIPP 9: Edith Pearlman, Honeydew (Ullstein)
„Edith Pearlmans Erzählungen sind eher Pralinés als Honigtau. Am besten genießt man sie auch so: Stück für Stück und nicht zu viele auf einmal.“

TIPP 10: Henriette Hell: Achtung, ich komme! In 80 Orgasmen um die Welt (Blanvalet)
„Ein lesenswertes Buch, nicht nur für Frauen. Auch die Männer können hier noch Einiges lernen.“

TIPP 11: Christina Baker Kline, Der Zug der Waisen (Goldmann)
„Die tiefgründige Erzählung lebt von viel Gefühl, einer großzügigen Prise Humor und großem schriftstellerischem Talent.“

kumala-zigarettenmädchen-print240TIPP 12: Erik Lindner, Auf der Suche nach dem Nudossi-Äquator
„Ein Muss für jeden, der mit Halloren Kugeln, f6 oder Schwalbe schöne Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in der DDR verbindet.“

BONUS: Ratih Kumala, Das Zigarettenmädchen (Cultur Books)
„Ratih Kumala gelingt durch ihre einfühlsame Erzählweise ein Kunststück, dasnur wenige Autoren meistern: Sie erschafft plastische Bilder im Kopf des Lesers.“

Rezension: Darragh McKeon, Alles Stehende verdampft

Ein Tag im April 1986 veränderte alles: Im Atomkraftwerk Tschernobyl war es zu einem Super-GAU – einem für die fortschrittsgläubigen Sowjets unvorstellbaren Ereignis – gekommen. Die ausgetretene Strahlung führte zu Umweltkatastrophen und persönlichen Tragödien. Nachdem die Nachrichten den Eisernen Vorhang passiert hatten, bekam die grüne Bewegung Rückenwind und erstmals wurde ernsthaft über den Ausstieg aus der Atomenergie nachgedacht und gesprochen. Das Reaktorunglück und vor allem die Folgen sind das Thema von Darragh McKeons Debütroman.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Ein Kaleidoskop an Geschichten
Von einer Minute auf die andere ist nichts mehr wie es war: Nicht für den 13jährigen Artjom, der erstmals mit den Männern des Dorfes auf die Jagd gehen darf, und als einer der ersten eine erschreckende Entdeckung macht. Er bemerkt, dass das Vieh auf den Weiden aus den Ohren blutet und Vögel vom Himmel fallen. Nicht mehr für den Chirurgen Grigori. Nicht mehr für seine Exfrau Maria und ihren Neffen, das Klavierwunderkind Jewgeni.

Keine der Hauptfiguren und zahllosen Nebenfiguren, deren Geschichte Darragh McKeon erzählt, bleibt von dieser Katastrophe unberührt. Und langsam entsteht im Kopf des Lesers das Bild einer untergehenden Supermacht, die ihr eigenes Schicksal nicht begreifen will. Während die einen, darunter auch Grigori, unmittelbar mit dem Leid konfrontiert werden, bemerken andere die Veränderungen nicht oder nur schleichend. Und dennoch gibt der Autor seinem Werk mit einem Zeitsprung ins Jahr 2011 – Jewgeni ist inzwischen ein gefeierter Pianist – einen fast versöhnlichen Schluss.

Wenn das Grauen zur Realität wird
Darragh McKeon erzählt seine Geschichte ohne jegliche Wertung und mit viel Liebe zum Detail. So erwähnt er in einer Randnotiz etwa auch Mathias Rusts Flug nach Moskau und die Landung auf dem Roten Platz, die für großes internationales Aufsehen sorgte. Auch Grigoris verzweifelte Versuche, vor den Gefahren der atomaren Strahlung zu warnen, werden durchaus realistisch geschildert. Die Szenen, in welchen die Auswirkungen des Super-GAUS auf die Menschen geschildert werden, wirken hingegen fast lakonisch nüchtern. Beispielsweise, wenn der Autor von den riesigen Geschwülsten erzählt oder von dem Mädchen, das ohne Scheide geboren wird und deshalb notoperiert werden muss. Das Grauen dieser Szenen wird für den Leser umso greifbarer, als sich diese wohl tatsächlich so oder so ähnlich zugetragen haben könnten.

Mein Fazit
Darragh McKeon ist trotz einiger unnötiger Längen im Storytelling ein hervorragender Erstlingsroman zu einem anspruchsvollen Thema gelungen. „Alles Stehende verdampft“ dürfte vor allem so manchem Leser der Generation 40plus eine Gänsehaut bescheren, die sich an die Katastrophe von Tschernobyl als junge Zeitzeugen erinnern.

Darragh McKeon, Alles Stehende verdampft
Ullstein, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Alles-Stehende-verdampft-9783550080845
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: David Foenkinos, Charlotte

Bücher über Künstler gibt es viele. Biografien, Analysen, Erklärungen, alle haben ihre Berechtigung. Kaum einem Buch gelingt es aber, das Wesen eines Künstlers, seinen Antrieb bei der Schaffung seiner Werke und seine Kunst an sich zu erfassen. Kann dies überhaupt möglich sein? David Foenkinos versucht in „Charlotte“ das Unmögliche: von Charlotte Salomon nicht nur zu schreiben, sondern sie wieder lebendig werden lassen.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Scheitern an der Realität
Über Charlotte Salomon hängt ein dunkler Schatten: in der Familie ihrer Mutter geht eine psychische Erkrankung um, die früher oder später die meisten der Betroffenen in den Selbstmord treibt. So auch Charlottes Mutter, als sie selbst noch ein kleines Kind ist. Der Vater, ein angesehener Arzt, ist untröstlich und verliebt sich doch wieder in die gefeierte Sängerin Paula. Damit zieht Leben in das Haus der Salomons ein: Künstler und Intellektuelle geben sich die Klinke in die Hand. Und Charlotte entdeckt ihr Talent und ihre Leidenschaft: sie möchte Malerin werden. Doch im Deutschland der 1930er Jahre, nach der Machtergreifung der Nazis, muss sich die jüdische Familie Salomon der Realität beugen. Charlottes Traum eines Kunststudiums scheint zu platzen. Als sich die Ereignisse immer mehr zuspitzen, flüchtet Charlotte schließlich zu den Großeltern nach Südfrankreich. Sie gewinnt damit ein paar Jahre Zeit, um zu leben, sich zu verlieben und auch, getrieben von der Angst vor den Nazis, um ihr Leben in einer gemalten Bildgeschichte für immer aufzuzeichnen.

Ungewöhnlicher Stil macht die Geschichte lebendig
David Foenkinos erzählt „Charlotte“ auf ganz eigene Art und Weise. Kurze Sätze, viele Absätze, kein fließender Text. Ein ungewöhnlicher Stil für eine ungewöhnliche Künstlerin und ihre Geschichte. Diese Art des Erzählens, von der Foenkinos im Buch selbst sagt, sie habe sich ihm aufgezwungen, schafft das, was eher unmöglich scheint: Charlotte und ihre Familie werden lebendig. Obwohl nicht sehr detailreich, habe ich als Leser doch das Gefühl, nicht aus der Ferne zu beobachten, sondern immer mitten im Geschehen zu sein. Exemplarisch am Beispiel von Charlotte Salomon lebt so das Grauen eines Zeitalters wieder auf.

Fazit
Künstler haben nicht umsonst den Ruf, ein wenig wirr, launisch und sprunghaft zu sein – und dennoch Großes schaffen zu können. In „Charlotte“ spiegelt das ganze Buch genau dieses Klischee wieder, das keines ist. Ich werde gefangen genommen – und hoffe bis zum Schluss, alles möge gut enden, obwohl ich es doch besser weiß.

David Foenkinos, Charlotte
DVA, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Charlotte-9783421047083
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Yorck Kronenberg, Tage der Nacht

Fast alle Menschen haben diese Erinnerungen, die nur schemenhaft sind und im Hintergrund lauern. Erinnerungen, die prägen, und doch vergessen werden müssen, will man geistig gesund blieben. Nur in den langen Nächten, wenn der Schlaf fehlt, sind sie plötzlich wieder greifbar. Yorck Kronenberg begleitet in seinem Roman „Tage der Nacht“ seinen Protagonisten durch eben jene Nächte, auf der Suche nach Schlaf und Erlösung.

Quelle: www.dtv.de
Quelle: www.dtv.de

Vergessen, aber nicht vergeben
Anton ist Literaturwissenschaftler aus Frankfurt und zieht nach der Pensionierung mit seiner Frau in ein Haus in einem englischen Küstenstädtchen. Dort, fernab der Großstadt, wähnt er sich in Ruhe und Sicherheit, doch das täuscht. Eines Nachts brechen drei Personen in das Haus ein und rauben Anton aus. Obwohl er und seine Frau unverletzt bleiben, weckt das Erlebnis die Erinnerung an seine Kindheit in Berlin in den 1930er und 1940er Jahren. Längst wähnte Anton diese vergessen, doch sie sind plötzlich wieder präsent und rauben ihm den Schlaf. Als Kind war „Toni“ hin- und hergerissen zwischen dem Musiker-Vater, der das Hitler-Regime verachtete und vielleicht auch deswegen künstlerisch eher erfolglos war, sowie der Mutter und dem Großvater, in dessen Uhrenwerkstatt Hitler offen befürwortet wurde. Mit der Verständnislosigkeit des Kindes erlebt Toni die Beziehungskrisen der Eltern und muss schließlich mit ansehen, wie der Vater verhaftet und abgeführt wird. Getrieben von diesen Bildern, macht sich der alte Anton schließlich in einer schlaflosen Nacht auf eine Wanderung entlang der Küste, um sich den erlebten Traumata aus allen Zeiten zu stellen.

Wenn Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen
Yorck Kronenberg spielt in „Tage der Nacht“ mit verschiedenen Zeitebenen: Das Kind Toni, Anton während des Überfalls und Anton im Jetzt wechseln sich ohne sichtbare Kennzeichen und logische Reihenfolge ab. Ganz so, wie es im Kopf von Anton vermutlich von einer Szene zur anderen springen würde. Damit gelingt Kronenberg ein aufwendiges Bild von Antons Psyche, ganz ohne Pathos, das dennoch vermittelt, wie sehr die einzelnen Ereignisse seine Persönlichkeit prägten.

Fazit
„Tage der Nacht“ ist ein eher stilles Buch, das ein sehr genaues Psychogramm eines Menschen zeichnet, der unter dem Nazi-Regime aufgewachsen ist. Durch den kindlichen Blick ist der Eindruck des Erlebten viel unverfälschter und stärker, als es eine Psychoanalyse je sein könnte. Wer sich auf die plötzlichen Sprünge in Antons Gedankenwelt einlässt und zuhört, wird begreifen, warum wir manches nie vergessen dürfen.

Yorck Kronenberg, Tage der Nacht
dtv, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Tage-der-Nacht-9783423280600
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Leipziger Erfolgsautoren signieren bei Lehmanns

Zwei der erfolgreichsten Leipziger Autoren signieren in den nächsten Tagen bei Lehmanns Media in der Grimmaischen Straße.

Zum Nikolaustag am verkaufsoffenen Sonntag, dem 6. Dezember, signiert Sabine Ebert von 14 bis 15 Uhr ihre historischen Romane um die Freiberger Hebamme Marthe und die Leipziger Völkerschlacht.

Freitag, den 11. Dezember, präsentiert Bernd-Lutz Lange zusammen mit seinen ehemaligen academixer-Kollegen Katrin Hart und Peter Treuner die brandneue CD „aMESSEment – Die sächsische Hitparade 1980-1990“ im Rahmen einer Signierstunde von 17 bis 18 Uhr. Die drei Künstler signieren gern die Nostalgie-CD mit einer persönlichen Widmung. Das ist doch mal ein sinnvolles Geschenk im WeihnachtsPassagenEinkaufstrubel!