Rezension: Christine Wunnicke, Der Fuchs und Dr. Shimamura

Vom Fuchs besessen, und das auch noch in Japan! Klarer Fall für Neurologen mit geschärftem Sinn für Menschen – vorzugsweise Frauen – neben der Spur. Dr. Shimamura (den es wirklich gab) reist in der Abendröte des 19. Jahrhunderts durch die Provinz, wo das burleske Krankheitsbild zur Folklore gehört. Ein liebestoller Student begleitet ihn, geht aber bald verloren, dafür fängt der Doktor sich selbst einen Fuchs ein (den es vielleicht auch gab). Da hilft nur noch Europa, und so flieht Shimamura auf Bildungsurlaub gen Westen, besteht neurologisch aufschlussreiche Abenteuer in Paris, Berlin und Wien. Allein, der Fuchs lässt ihn nicht los – auch nicht Jahrzehnte später zurück in Japan, wo sich dieses seltsame Leben, beäugt von allerhand weiblichem Familienanhang, seinem Ende zuneigt. Und so bleibt der Fuchs der unsichtbare Protagonist dieses fernöstlichen Gegenwartsromans.

Quelle: www.berenberg-verlag.de
Quelle: www.berenberg-verlag.de

Der Klappentext verrät es schon: Hier wird es richtig schräg! In mehreren Rückblenden erzählt der Roman über das Leben des herrlich verschrobenen Nervenarztes Dr. Shimamura und seiner Erforschung der Fuchsbesessenheit. Ob es sich dabei um eine Nervenkrankheit, einen Parasiten oder um einen Parasiten handelt, der eine Nervenkrankheit hervorruft, klärt sich nicht endgültig auf dieser irrwitzigen Reise durch die sommerheiße Provinz Shimane. Zusammen mit seinem verquasselten Assistenten versucht Dr. Shimamura der rätselhaften Krankheit auf den Grund zu gehen. Bei der Behandlung einer schönen Fischhändlerstochter fängt sich der Doktor selbst den Fuchs ein, was ihn nach Europa treibt. Er trifft auf die dort führenden Geisteswissenschaftler Charcot, Breuer und Freud, hospitiert in der Salpetrière und der Charité und wird fast selbst zum Patienten. Schließlich beendet er sein Europa-Abenteuer mit der Erkenntnis, dass das analytische Gespräch für Japan unbrauchbar sei, da es dem Sinn für Höflichkeit widerspricht. Was für ein herrlicher Wirrwarr!

Wer skurrile Geschichten mag, wird diesen Roman lieben. Die Sprache ist teils poetisch, teils komisch und die Handlung beinahe surrealistisch. Einen Vorgeschmack erhält der Leser schon im Vorwort, das mit diesem Satz endet: “Gepriesen sei die Hysterie und ihr Gefolge junger nackter Frauen, die über die Dächer gleiten!“ (André Breton, Zweites Manifest des Surrealismus, 1930)

„Der Fuchs und Dr. Shimamura“ ist das zweite Buch von Christine Wunnicke im Berenberg-Programm. Es war 2015 für den Deutschen Buchpreis nominiert (Longlist). Der Berenberg-Verlag wurde ebenfalls 2015 mit dem Kurt-Wolff-Preis ausgezeichnet „für Bücher, bei deren Lektüre sich dem intellektuellen Reiz und der Lust am Text die Freude an der eleganten Buchgestaltung beigesellt“, so das Kuratorium der Kurt-Wolff-Stiftung. Auch Dr. Shimamura folgt diesem Anspruch in einer attraktiven Halbleinen-Ausstattung mit Fadenheftung.

Christine Wunnicke, Der Fuchs und Dr. Shimamura
Berenberg Verlag, Berlin 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Fuchs-und-Dr-Shimamura-9783937834764
Autoren der Rezension: Petra Gugel / Detlef M. Plaisier