Rezension: Edith Pearlman, Honeydew

Der blaue Leineneinband vor mir enthält zwanzig Geschichten der amerikanischen Schriftstellerin Edith Pearlman, von der es auf Rückseite heißt, sie sei „die beste Erzählerin der Welt“. Dieses Urteil der „Times“ will ich überprüfen.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Honigtau
Honeydew – zu Deutsch „Honigtau“- ist der Titel des Erzählbandes. In der gleichnamigen Erzählung am Schluss des Buches erfahre ich von der anorektischen, aber äußerst gebildeten Emma, dass mit „Honigtau“ die Exkremente einiger Insekten bezeichnet werden. Es ist daher eine selten schöne Euphemisierung, wenn Emmas Schulleiterin am Ende der Erzählung verkündet, „dass die wichtigsten Regeln der Schule […] nach Toleranz und Diskretion verlangten. Alle anderen seien Honigtau“ – mit anderen Worten „Scheiße“. Vor diesem Hintergrundwissen scheint es mir ein merkwürdig selbstironischer Zug der Autorin, ausgerechnet diesen Titel für ihre Geschichtensammlung gewählt zu haben.

Klassisch und virtuos
Pearlman versteht es, immer wieder zwar eigentümliche, aber kunstvolle Beschreibungen zu finden, ohne dabei kitschig-poetisch oder unverständlich zu werden. Die Geschichten sind im erzählerischen Präteritum gehalten und sehr dicht; es bedarf also einer gewissen Aufmerksamkeit, um alles zu erfassen, was in und zwischen den Zeilen geschrieben steht. Dann aber lassen die pointierten Momentaufnahmen das ganze Leben der Charaktere erahnen. Obgleich die Erzählungen selbstständig sind, gibt es wiederkehrende Figuren und Orte: Etwa die Antiquitätenhändlerin Rennie und die frei erfundene Stadt Godolphin. Hier und andern Orts dreht es sich häufig um Liebesbeziehungen.

Zwischen Antiquitäten und Kuriositäten
In der einleitenden Erzählung kommt es zu einer erotischen Begegnung im Fußpflegesalon, in Rennies Antiquitätenhandel erinnert sich die frischgebackene Witwe Ophelia ihrer Jugendliebschaft zu Füßen der Bronzestatue „Puck“, ein anderes Mal findet die unfruchtbare Gabrielle ihr sexuelles Glück ausgerechnet bei einer durch weibliche Beschneidung verstümmelten Somalierin. In „Drei Richtige“ lassen vier Mädchen das Los über ihr künftiges Eheglück entscheiden. Mein Favorit ist die Geschichte „Erst mal sehen“, worin der pentachromatisch sehende Lyle eine Brille begrüßt, die seine Farbsicht so weit reduziert, dass er die Welt wieder „normal“ sieht. Zu viele Farben sind eher Fluch als Segen – das findet auch Lyles Mutter, für die „Rassenmischung die Antwort auf das Übel in der Welt [ist]. Alle Menschen in einer Farbe: mittelbraun“.

Fast alle Geschichten sind mit größeren oder kleineren Kuriositäten gespickt: Füße, die von ihrem Besitzer „Ebd.“ und „Sic“ genannt werden, ein Sofa namens Jack, ein Zimmer namens Nutzlos, eine Pflanze unbekannter Herkunft, die trotz zweifelhafter Bewässerung mit Kaffee, Mundspülung, Zigarettenasche und Fischfutter überlebt. Trotz dieser komischen Elemente reizt mich keine der Erzählungen zum Lachen noch zum Weinen. Allesamt enden sie ohne große Pointe oder Moral. Kaum habe ich mich an die Figuren gewöhnt und Hunger auf mehr, ist es schon vorbei.

Mein Fazit
Edith Perlmans Erzählungen sind eher Pralinés als Honigtau. Am besten genießt man sie auch so: Stück für Stück und nicht zu viele auf einmal – sonst verfälscht man den Geschmack der einzelnen Geschichten. Wer wie ich aber lieber eine ganze Tafel Schokolade auf einmal verschlingt, ist mit einem Roman wohl besser beraten.

Edith Pearlman, Honeydew
Ullstein Buchverlage, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Honeydew-9783550080999
Autorin der Rezension: Katja Weber