Rezension: Arne Dahl, Neid

Der Kapitalismus ernährt uns. Und zugleich verzehrt er uns. Fasziniert und empört in einem Atemzuge sind wir. Die soziale Verantwortung des Unternehmens und der Unternehmer besteht darin, den Wert ihrer Firma zu steigern, am besten zu maximieren. So lehrt es die ultrakonservative Schule, etwa der Ökonom Milton Friedman. Dass freier Markt und Kapitalismus ein zu forderndes Maß an Menschlichkeit, Sittlichkeit und Recht nicht aus sich selbst heraus zu garantieren vermögen, zeigt Arne Dahls neuer Roman „Neid“.

Ermittler aus mehreren EU-Staaten sind auf der Spur eines europäisierten Verbrechens, dessen Monstrosität und Virulenz dem Leser allmählich in eindrücklicher erzählerischer Meisterschaft enthüllt wird. Europa, das wir als Schauplatz des Triumphs von Frieden, Recht und Verständigung kennen, ist bei Dahl Schauplatz des Bösen, Abgründigen, des sittlich-moralischen Niedergangs. Menschenhandel, eine bedrohte EU-Kommissarin und allenthalben die bedrohlich wachsenden Möglichkeiten und Verlockungen der Technik, die den Hütern des Rechts wie seinen Feinden gleichermaßen zu Gebote stehen …

Eine Vielzahl an Handlungssträngen und Dahls virtuose Erzähltechnik, die mit der Virtuosität und Verwickeltheit des Bösen korrespondiert, machen die Lektüre zu einem Erlebnis. Das Neid als Gefühl aber auch gut sein kann, Antriebsfeder sein kann für Aktionen und das Erreichen hochgesteckter Ziele, dass Neid letztlich auch das gemeine Wohl befördern kann, nicht zwingend in Unrecht und Verbrechen umschlagen und entarten muss, vermisst man bei Dahl. Es gilt immer, auch in dunkelster Nacht, die Selbstbeschreibung des Mephistopheles: „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“

Autor: Moritz Müller, Leipzig