Rezension: Atle Næss, Die Riemannsche Vermutung. Oder: Eine Wurzelbehandlung der Liebe.

Vorab: Im norwegischen Original heißt dieser Roman „Wurzel aus minus eins“. Womit ich jetzt einfach mal eine kurze seitliche Arabeske aufs mathematische Terrain einleite – denn ein paar Grundlagen in Bezug auf die Gedankenwelt von Riemann und Konsorten helfen womöglich beim Verifizieren der kritischen Betrachtung dieses Buches.

Voilà: Im Raum der reellen Zahlen ist eine negative Wurzel nicht definiert; denn Minus mal Minus ergibt immer Plus. Anders aber bei der Erweiterung  hin zu den komplexen Zahlen. Und da wird dann die Wurzel aus (-1) ‚i‘ genannt. Damit ist, unter anderem nach Ansicht des Autors Atle Næss, die Welt ins Metaphysische hinein eröffnet. Und damit konnte Bernhard Riemann 1859 auch seine berühmte Vermutung aufstellen. In prosaischen Worten lautet diese: Man kann bei der Verteilung von Primzahlen im unendlichen Meer der natürlichen Zahlen gewisse versteckte Muster bei deren Auftauchen entschlüsseln. Auf diesem Fundament bastelt Næss nun seine Geschichte, die uns als Tagebuchaufzeichnungen des Mathematikdozenten Terje Huuse serviert wird.

Der primäre Plot selbst ist schnell erzählt: Mathematiker Huuse hat Frau und zwei Kinder im „schwierigen“ Teenageralter, natürlich ist er in der Midlife-Krise, sexuell läuft im Hause Huuse schon länger nichts mehr. Da lernt er im Rahmen seines Projekts einer geplanten Riemann Biografie bei einem Schreib-Workshop eine gleichaltrige Frau kennen, verliebt sich in diese, muss alles ganz geheim halten, fährt mit ihr sogar nach Berlin und Göttingen zu Recherchen in Sachen Riemann – und muss nach einer häuslichen Katastrophe schnell wieder heim nach Oslo.

Uff! Dass der Erzählstrang dieser Liebesgeschichte die etwas platte Anmutung einer ZDF-Schmonzette aufweist, trübt das Lesevergnügen, wird aber überraschenderweise dann aber – auch mit Bezug auf die offensichtlichen formalen Schwächen – am Ende des Buches aufgelöst. Das ist zwar in gewisser Weise clever vom Autor. Allerdings: beim Lesen der ersten 180 Seiten hilft das freilich nicht. Das Ganze ist leidlich ordentlich erzählt. Der subjektive Einblick in das sozial-emotionale Trauerspiel eines saturierten Mittelständlers jedoch recht ausufernd und nicht besonders originell geschildert. Daneben rauscht der Erzählfluss zur fragmentarisch sich entwickelnden Riemann Biographie. Und die Philosophie von einsamen Zahlenwerten und sich findenden Menschen wabert durch den Subtext. Aber wie gesagt, am Ende wird’s dann – auch durch plötzlichen Perspektivenwechsel – wenigstens in der Rückschau ein Stück weit geistreich.

Fazit in Summe: Primzahlen verstanden.
Prima geht aber anders.

Autor: Harald Wurst | ph1.de