Rezension: Niccolò Ammaniti, Du und Ich

Lorenzo muss sich verstellen, um einigermaßen unbeschadet durchs Leben zu kommen. In Wirklichkeit will Lorenzo nur mit seiner Mutter, seinem Vater und seiner Großmutter „Nonna Laura“ zusammen sein und sich ansonsten in seiner Welt aus Playstation, Träumen und Stephen King-Romanen vergraben. Aber so funktioniert Leben nicht! Lorenzo hat zu lernen, sich unter anderen Menschen zu bewegen, im Kindergarten, in der Schule, in der Freizeit. Dabei will Lorenzo nur allein sein und in seiner Welt leben dürfen. Wenn jemand sein Distanzbedürfnis nicht einhält und ihm zu nahe tritt, verliert er die Kontrolle, sieht rot und schlägt um sich. Nachdem er so einen Klassenkameraden verletzt hat, muss er zum Psychologen.

Aber Lorenzo ist nicht dumm. In einem langwierigen Lernprozess eignet er sich die gewünschten Verhaltensweisen an, indem er seine Umgebung kopiert. Er erlernt eine Art sozialer Mimikry, mit der er sich in der Menge verstecken kann, ohne sich wirklich am Zusammenleben zu beteiligen.

Skiausflug nach Cortina

Um ihr eine Freude zu machen, erzählt Lorenzo seiner Mutter, eine Klassenkameradin habe ihn zum Skifahren eingeladen. Eine Woche werde er mit Freunden in Cortina verbringen – was natürlich nicht stimmt. Die Freude seiner Mutter über diese positive Entwicklung ist so riesig, dass er beschließt, den Skiurlaub vorzutäuschen und die Woche im Keller des Hauses zu verbringen. Das klappt auch, bis ihn dort seine Stiefschwester Olivia findet. Sie hat keine Bleibe und ist drogenabhängig. Sie muss Lorenzo erst erpressen, damit er sie in seinem Kellerdomizil aufnimmt. Es beginnt ein schwieriges Zusammenleben, nachdem Lorenzo endlich Olivias Drogenabhängigkeit erkannt hat. Als Olivia auf eigene Faust einen Entzug versucht, übernimmt Lorenzo Verantwortung für seine Schwester und lernt so, dass es auch Wichtiges außerhalb des eigenen Ich gibt.

Zwangsgemeinschaft im Keller als Lorenzos Sprungbrett ins Leben

Nicht nur die übernommene Verantwortung, auch die Zuwendung seiner Schwester machen Lorenzo klar, dass er nicht auf ewig in sein eigenes Ich eingesperrt bleiben kann und das auch nicht will. Der Kelleraufenthalt ist Lorenzos Schnellkurs in sozialer Kompetenz.

Konsequent aus Lorenzos Ich-Perspektive geschrieben, fesselt „Du und Ich“ durch eine Schnörkellosigkeit in der Sprache und mit treffsicheren Bildern. Ein Kompliment an dieser Stelle auch dem Übersetzer Ulrich Hartmann.

Auch „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ von Junot Díaz oder  „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ von André Kubiczek handeln vom Erwachsenwerden, begleiten aber eine ganze Lebensentwicklung. Ammaniti hat sich auf diese eine Episode in Lorenzos Leben beschränkt und damit ein Werk von fast novellistischer Zuspitzung geliefert. Er beschreibt einen Wendepunkt, der Lorenzo den Start in ein anderes Leben ermöglicht. Ein Buch, das trotz einer fast grausamen Rahmenhandlung deutlich in die Kategorie „unbedingt lesen“ gehört.

Niccolò Ammaniti: Du und Ich. Piper Verlag, 2012. 
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