„Auf dem Bahnsteig drängten sich Flüchtlinge aus Schlesien…“

„Am Tag der Heimreise fuhr ich abends mit einem Güterzug nach Frankfurt/Oder. Eine andere Verbindung mit einem Personenzug bestand mit viel Glück erst wieder am kommenden Tag. Der Bahnbeamte hatte Mitleid und verfrachtete mich in einen Waggon. Es war bitter kalt. Draußen zeigte das Thermometer minus 25 Grad, die Wagentemperatur lag kaum darüber. Aber drinnen verspürte ich wenigstens nicht den eisigen Ostwind.
In Frankfurt/Oder herrschte das blanke Chaos. Auf den Bahnsteigen drängten sich Flüchtlinge aus Schlesien und Ostpreußen, dazwischen Einheiten der Wehrmacht, die auf den Weitertransport an die Front warteten. Alle Züge waren reserviert. Ich stand einsam und verlassen in der Nacht und hoffte auf eine Möglichkeit, weiter nach Berlin zu gelangen…“

Meine Familie und die NS-Zeit

Ich hatte angekündigt, dass der Text schreckliche Neuigkeiten über meine Familie birgt. Ich will es nicht selbst erzählen, sondern meinen Vater sprechen lassen:

„Wir wendeten auf unserer Wiese am Schwalenberg gerade das Heu, als ein Auto anhielt und Kreisleiter Buscher aus Aschendorf ausstieg. Er kam auf meine Eltern zu und begrüßte sie. da ich mich am anderen Ende der Wiese aufhielt, konnte ich den Beginn des Gespräches nicht hören. Als ich näher kam, hörte ich Folgendes:

Der Ortsgruppenleiter der NSDAP, Robben, war zur #Wehrmacht eingezogen worden. Nun müsse diese Aufgabe ein anderer übernehmen. Ich übertrage Ihnen, Herr Plaisier, dieses Amt mit sofortiger Wirkung. Ihre Frau übernimmt das Amt der Frauenschaft . Heute muss jeder Deutsche seine Pflicht erfüllen.“

Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit, die ich nie zuvor geahnt habe.

Rezension zu Marie Moutier: Liebste Schwester, wir müssen hier sterben oder siegen. Briefe deutscher Wehrmachtssoldaten.

Muss ein weiteres Buch zum Thema Zweiter Weltkrieg wirklich noch sein, mag sich der Leser bei der ersten Betrachtung von „Liebste Schwester, wir müssen hier sterben oder siegen“ vielleicht fragen. Diese Frage erübrigt sich jedoch beim zweiten Blick auf das umfangreiche Buch. Es beleuchtet die Geschehnisse an den Kriegsschauplätzen in Europa, Russland und Afrika aus einer Perspektive, die in der offiziellen Geschichtsschreibung eher eine Randnotiz darstellt.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Briefe von der Front an die Heimatfront
In einer allgemeinen Einführung schildert die französische Historikerin und Germanistin Marie Moutier ihre Herangehensweise und so manche Problematik, die sich aus der Auswahl der Briefe ergab, als sie aus dem umfangreichen Fundus der Berliner Museumsstiftung Post und Telekommunikation ihre Auswahl an Feldpostbriefen deutscher Soldaten in die Heimat getroffen hatte. Wie die Autorin im Vorwort schreibt, hat sie diese Auswahl unter verschiedenen Gesichtspunkten getroffen. Einerseits sollten die Feldpostbriefe von allen Kriegsschauplätzen aus allen Phasen des Krieges stammen. Andererseits differenzierte sie auch nach den Adressaten der Briefe. Schließlich haben sich die Soldaten in Briefen an die Partnerin anders ausgedrückt als etwa in Briefen an die Eltern. Ergänzt wird das Werk durch ein Vorwort des Historikers Timothy Snyder.

Ein Blick in die Seele der Soldaten
Marie Moutier verzichtet komplett auf eine Wertung der Briefe. Sie schildert lediglich in kurzen Einführungen den Kriegsschauplatz und den zeitlichen Zusammenhang. Dies gibt dem Leser insofern eine Hilfestellung, als viele Soldaten an unterschiedlichen Fronten gekämpft haben und von einzelnen Soldaten mehrere Briefe aus verschiedenen Phasen des Krieges abgedruckt werden.

Durch die Auswahl der Briefe gelingt es der Autorin, ein menschliches Bild von Soldaten zu zeichnen, die allzu oft zu unmenschlichen Taten gezwungen wurden. In einzelnen Fällen lässt sich auch die persönliche Entwicklung der Soldaten nachverfolgen: Die anfängliche Begeisterung für den Krieg und das nationalsozialistische Regime weicht mit zunehmendem Kriegsverlauf der Skepsis über den Ausgang der Schlachten. Mitläufer wurden in vielen Fällen zu stummen Widerständlern, die an der Front einfach nur überleben wollten.

Mein Fazit
„Liebste Schwester, wir müssen hier sterben oder siegen“ gibt einen menschlichen Einblick in die schrecklichsten Jahre, die Europa während des 20. Jahrhunderts durchlebt hat. Das Werk hätte durchaus das Potenzial, im Rahmen des Geschichtsunterrichtes eingesetzt zu werden. Denn obwohl ihre Großeltern noch direkt oder indirekt vom Krieg betroffen waren, wirkt der Zweite Weltkrieg für die nach dem Mauerfall Geborenen als eine andere, ferne, ja fremde Epoche und ist oft zu abstrakt, um die Zusammenhänge wirklich begreifen zu können.

Marie Moutier: Liebste Schwester, wir müssen hier sterben oder siegen
Originaltitel: Lettres de la Wehrmacht. Übersetzt von Michael von Killisch-Horn
Karl Blessing Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/-Liebste-Schwester-wir-muessen-hier-sterben-oder-siegen–9783896675521
Autor der Rezension: Harry Pfliegl