"Negatives hilft, spannende Geschichten zu schreiben": Gespräch mit der norwegischen Autorin Ingvild H. Rishøi

Mit den „Winternovellen“ der norwegischen Autorin Ingvild Hedemann Rishøi hat Verleger Rainer Höltschl vom Leipziger Open House Verlag ein echtes  Goldstück ins Programm geholt. Die Autorin (Jahrgang 1978) begeisterte in ihrer nordischen Heimat Kritik, Blogger und Publikum. Die drei Winternovellen legt der Leipziger Verlag auf knapp 200 Seiten in einer Hardcover-Ausstattung mit geprägtem Leineneinband, farbigem Vorsatzpapier und Lesebändchen vor; auch haptisch eine Entdeckung. Ich hatte Gelegenheit, mit Ingvild H. Rishøi nach ihrer Premierenlesung auf der Leipziger Buchmesse zu sprechen. Danke an die Übersetzerin Daniela Syczek für ihre Unterstützung!

Ingvild H. Rishøi bei ihrer Premierenlesung. Foto Detlef M. Plaisier
Ingvild H. Rishøi bei ihrer Premierenlesung. Foto Detlef M. Plaisier

Mit den „Winternovellen“ legen Sie drei Geschichten vor, drei Spotlights menschlichen Verhaltens, das alltäglich, ja fast banal ist. Es sind keine groß gewebten Geschichten, eher Miniaturen, die zeigen, wie zerrissen ein Mensch sein kann, wie er leidet und doch Hoffnung findet. Was ist so faszinierend am Leid? Warum fesselt Sie Leid mehr als Glück?

Ganz einfach: Das Negative hilft dabei, spannende Geschichten zu schreiben. Das ist wie bei Märchen: Nur Positives ergibt keine Handlung. Deswegen brauche ich immer negative Menschen und Handlungen.

?  Ihre Charaktere in den „Winternovellen“ sind verzweifelt, strahlen für mich aber gleichzeitig menschliche Wärme aus. Wie real sind die Personen? Gibt es lebende Vorbilder für Alexa, Leon und die Geschwister?

!  Manche Situationen sind tatsächlich passiert, manche Dialoge sind aus dem tatsächlichen Leben. Das betrifft vor allem die Rückblenden. Die Blicke in die Vergangenheit sind realer als die Gegenwartssituationen. Wenn ich etwas Reales einbaue, dann vor allem, weil sich die Art, wie es passierte oder wie es gesagt wurde, bei mir emotional verfestigt hat.

Ingvild H. Rishøi mit ihrer Übersetzerin Daniela Syczek. Foto Detlef M. Plaisier
Ingvild H. Rishøi mit ihrer Übersetzerin Daniela Syczek. Foto Detlef M. Plaisier

Mich interessiert Ihr Schreibprozess. Wie schreiben Sie: eher diszipliniert oder intuitiv? Gibt es immer nur ein Projekt oder mehrere parallel?

Mich begleitet immer ein Notizblock, selbst ins Fitnessstudio. Ich gehe jeden Tag zur selben Zeit ins Büro. Aber da entstehen natürlich nicht die Ideen. Die Recherchezeit ist draußen, im Büro werden die Ideen dann strukturiert.

Von Ihnen gibt es auch zwei Kinderbücher. Die Personen in Ihren Texten reichen von jung und unschuldig bis lebenserprobt. Welche Lebensphase ist für das Schreiben am ergiebigsten?

(lacht) Mädchen in den Zwanzigern! In die kann ich mich am besten hineinversetzen. Aber es ist generell spannend, wenn ich mir vorstelle, jemand anderes zu sein. Das gilt auch für Männer, etwa bei Thomas, wie er seine zeit im Gefängnis verbringt. Da beginne ich zu träumen und male mir das aus.

01c-winternovellen_Cover_Vorschau_record-pfeffer?  Sie haben 2015 in Norwegen den Buchblogger-Pries für die „Winternovellen“ erhalten. In Deutschland werden Literaturblogger zunehmend neben dem etablierten Feuilleton wahrgenommen. Wie ist das in Norwegen? Wie ist da die Position der Blogger? Haben Sie persönlich Kontakt zu Bloggern?

Darüber weiß ich nicht viel. Aber zwischen den „alten Kritikern“ der Zeitungen und den Bloggern ist das Klima nicht freundlich, es ist Konkurrenz. Viele Kritiker meinen, was sie tun, solle ein seriöser Beruf sein. Wer sie „nebenbei“ damit beschäftige, könne Literatur auch nicht im gleichen Maß wertschätzen. Ich bin da anderer Meinung. Schließlich beschäftigen sich Buchblogger freiwillig mit den Texten und bekommen ihre Lektüre nicht vorgeschrieben.

Ausführliches Interview mit der Autorin auf dem Verlagsblog hier

Rezension: Nicola Nürnberger, Berlin wird Festland

Quelle: openhouse-verlag.de
Quelle: openhouse-verlag.de

Wie findet man zu sich selbst, wenn rundherum alles in Auflösung begriffen ist? Wie geht man mit der Veränderung um, die man nicht beeinflussen kann, und die gerade deswegen furchterregend ist? Diese Fragen, die Nicola Nürnberger in ihrem Roman „Berlin wird Festland“ stellt, aber nicht zu beantworten vermag, sind wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst – und in manchen Situationen offensichtlicher als in anderen.

Über die Schwierigkeiten eines Neuanfangs
Berlin, 1991: der Mauerfall ist keine zwei Jahre her, und die Trennung zwischen Ost und West ist noch deutlich sichtbar in der „Insel“ West-Berlin mitten in Ostdeutschland. Christine ist aus der hessischen Provinz zum Studium nach Berlin gekommen und genießt die vermeintliche Freiheit der wilden Umbruchszeiten. Nach und nach merkt sie, dass die rasante Veränderung rundum nicht nur gute Seiten hat: zwischen aufkeimendem Rechtsradikalismus, gewaltbereiten Demonstranten und den Alten, die sich die „guten alten Zeiten“ zurück wünschen, muss sie ihren eigenen Weg finden. Monty, der „schon“ 30 ist und die Wende vor Ort miterlebt hat, hilft ihr, eine Brücke zu schlagen zwischen Ost und West, Alt und Neu. Und so, wie sich die Liebesgeschichte zwischen den beiden entwickelt, entwickelt sich auch Christines Verständnis dafür, dass positive Veränderungen bei ihr selbst beginnen müssen.

Autorin Nicola Nürnberger mit Verleger Rainer Höltschl. Foto: Detlef M. Plaisier
Autorin Nicola Nürnberger mit Verleger Rainer Höltschl. Foto: Detlef M. Plaisier

Erinnerungen, die man nicht aufschreibt, gehen verloren
Nicola Nürnberger zeichnet das Bild Berlins nach der Wende aus der Sicht einer jungen Frau: lebendig, furchteinflößend, voller Chancen und Widersprüche. Auch die Gefühlswelt und die Gedanken werden eingefangen und zeigen die Diskrepanz zwischen den jungen Menschen, die noch getrennt nach Ost und West aufgewachsen sind; zeigen, wie wenig der Westen vom Osten wusste und wie gönnerhaft mit den Menschen umgegangen wurde, die sich „drüben“ eine bessere Zukunft aufbauen wollten, frei von Stasi-Terror und Regime-Repressalien. Ebenso wird klar, wie viele Menschen damals schon eine schöne, friedliche neue Welt wollten, in der alle zufrieden miteinander leben können. Als Christine beschließt, ihre Erlebnisse aufzuschreiben, gemeinsam mit den Erinnerungen der Alten, die sie als Mitarbeiterin eines Besuchsdienstes betreut, möchte sie kein typisches Tagebuch schreiben, Erinnerungen für die Nachwelt erhalten.

Mein Fazit
Eine gelungene Mischung aus Lebensbild einer jungen Studentin, die zum ersten Mal wirklich verliebt ist und merkt, dass es mehr gibt im Leben als die akademische Welt, Ausgehen und One-Night-Stands, und der Beschreibung einer Stadt im Wandel. Wer selbst studiert hat, erkennt sich in Christine wieder, in der Unbedarftheit und Sorglosigkeit, mit der sie ihren Alltag bestreitet, aber auch in ihrem Entsetzen, als sie begreift, dass akademische Diskussionen und Protestplakate an der rauen Wirklichkeit vorbei gehen. Eine lesenswerte Erzählung, die hilft, Erinnerungen aufzufrischen und zu erkennen, dass die Welt von damals von der heutigen gar nicht so weit entfernt ist.

Nicola Nürnbeger, Berlin wird Festland
Open House Verlag, Leipzig 2014
Interview mit Nicola Nürnberger hier
Online bestellen: http://www.openhouse-shop.com/produkt/nicola-nuernberger-berlin-wird-festland/
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Verlagsperlen bei Lehmanns: Der Open House Verlag reist mit Nicola Nürnberger von West nach Ost

Buchhandel lebt von der Liebe zum Buch und vom unermüdlichen Engagement Einzelner. Und so darf es auch mal gesagt werden, dass sich Lehmanns Media durch die Leselust und die Kontakte von Buchhändlerin Franka Schloddarick zum Indie-Flagschiff der Leipziger Buchhandlungen gemausert hat. Das findet Ausdruck durch Extratische, engagierte Beratung und im Veranstaltungsprogramm. Jeden letzten Dienstag im Monat heißt es in der Grimmaischen Straße: Vorhang auf für Verlagsperlen aus dem Indiebereich! Zur Programm-Sneak Preview im Mai hatte Verleger Rainer Höltschl vom Leipziger Open House Verlag die Hausautorin Nicola Nürnberger mitgebracht. Blogautoren Jasmin Beer und Detlef Plaisier waren dabei.

Open House LogoEin österreichischer Literaturwissenschaftler und eine niedersächsische Philosophin mit Visionen in Leipzig – das war vor dreieinhalb Jahren der Startschuss von Rainer Höltschl und Christiane Lang zu einem ungewöhnlichen, mutigen Verlagsprojekt. Schon die Namenswahl setzte Zeichen: „Open House“ sollte in eine verlegerische Lücke stoßen und in der Messestadt die Nähe zu Buchmesse, zum Deutschen Literaturinstitut DLL sowie zu den Hochschulen HTWK und HGB nutzen.

Bei Lehmanns plauderte Rainer Höltschl offen aus dem Nähkästchen und skizzierte die schwierige Anfangszeit, die Liebe zur Gestaltung und die determinierenden unternehmerischen Komponenten: Besaß das erste Buch aus dem Open House Verlag noch einen aufwendig gestalteten Schutzumschlag, Fadenbindung und eine eigene Typographie, so wird bei den Neuerscheinungen des Herbstprogrammes auf einen Schutzumschlag verzichtet – schließlich nehme den ja auch jeder ab, damit der Umschlag unversehrt bliebe (verstohlener Seitenblick beider Autoren: schuldig im Sinne der Anklage).

Verleger Rainer Höltschl mit Autorin Nicola Nürnberger bei Lehmanns. Foto: Detlef M. Plaisier
Verleger Rainer Höltschl mit Autorin Nicola Nürnberger bei Lehmanns. Foto: Detlef M. Plaisier

Dafür ist das Programm inzwischen breiter geworden. Vor zwei Jahren kündigten die Verleger drei Reihen an: „Reihe 1“ mit moderner und junger Literatur, dazu „Backup“ als Sammelbecken vergessener und verkannter Klassiker und „Seismograph“ für Sachbücher. Der Vorsatz, im Programm der „Reihe 1“ ausschließlich deutsche Schriftsteller sowie Übersetzungen aus dem Englischen und Norwegischen zu bündeln, bröckelt aktuell: Es laufen vielversprechende Gespräche mit einem Autor aus dem ehemaligen Jugoslawien. Da ist ein handfester Schuss Politik zu erwarten, was Verleger Höltschl durchaus begrüßt.

„Autoren wollen einen guten Vertrieb, jeder Vertrieb will gute Autoren“. Rainer Höltschl ist stolz, dass Open House den Sprung in den exklusiven Zirkel geschafft hat. Wie, das bleibt ebenso ein Geheimnis wie die genaue Auflagenhöhe der Publikationen. Bleibt die Frage, wie Open House neue Autoren rekrutiert. Talente sind schon früh umkämpft: Längst schöpfen auch Suhrkamp und Co. bei Veranstaltungen des DLL mögliche Hausautoren ab. Höltschl bleibt dran, geht zu Lesungen ins DLL und in Hausprojekte. Kleine Enttäuschung: Im gestalterischen Bereich ist die erhoffte Zusammenarbeit mit der HGB noch in den Kinderschuhen.

Quelle: www.openhouse-verlag.de
Quelle: www.openhouse-verlag.de

Manchmal hilft einfach auch der Zufall (oder für den, der nicht daran glaubt, die Vorsehung). So trafen sich auch Höltschl und der Hauptakt der Mai-Präsentation bei Lehmanns. Bei einer Preisverleihung trug Nicola Nürnberger einen Teil ihres späteren Romans „Westschrippe“ vor. Höltschl war sofort begeistert von diesem Blick auf die BRD vor der Wende. So viele Werke gab es schon über die DDR, aber kaum Berichte über den Westen in dieser Zeit. Nun liest Nicola Nürnberger aus ihrem zweiten Roman unter dem Titel „Berlin wird Festland“, in dem es die junge Protagonistin Christine Anfang der 1990er Jahre – ähnlich wie die Autorin selbst – nach dem Abitur von der hessischen Provinz nach Berlin verschlägt. Sie steht verloren in einer Großstadt, deren zwei Teile noch immer damit beschäftigt sind, sich zusammenzufinden. Natürlich gibt es eine kleine Liebesgeschichte, um die Handlung in Gang zu halten, sowie eine große Portion Berlinhype mit jeder Menge Anspielungen auf Kneipenlandschaft und teilweise noch heute touristenferne Orte. Die ausgesuchten Lesehappen vermitteln den Eindruck einer Jonglage aus Berliner Stereotypen und Spezifika wie den Durchsteckschlüssel, deren Beschreibungen sich vor allem auf Adjektive stützen.

Der Verlag hat Nicole Nürnberger in ihrem Schreibprozess durch ein intensives Lektorat unterstützt. Auch hier lobt Verleger Rainer Höltschl den leicht politischen Einschlag, denn im Verlagskonzept ist dies ebenso eine Facette wie der besondere Blick auf die Genderfrage. Frauen und Männer, so Höltschl, sollen gleichermaßen zu Wort kommen.

Open House hat sich viel vorgenommen: Aufwendig gestaltete Klassiker, neue deutsche und internationale Literatur, dazu Sachbücher, die sich mit Kunst, Medien und Zeitgeschichte auseinandersetzen sollen, und das alles am besten noch mit einer leicht politischen Note von Gender bis Ost-West-Problematik. Für einen jungen Verlag große Ansprüche. Höltschl komprimiert es ganz einfach: Schöne Bücher, die man auch liest.

www.openhouse-verlag.de
Nicola Nürnberger liest: https://www.youtube.com/watch?v=018KthpWSjM
Buch online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Berlin-wird-Festland-9783944122113