„Buchmesse schmeckt“: OB Jung macht atemlos

„Ich lese so schrecklich gerne vor“. Oberbürgermeister Burkhard Jung stellt ein Geständnis an den Beginn seiner Lesung bei „Buchmesse schmeckt“ und macht dann kurzen Prozess: In gerade mal 25 Minuten versteht er es, mit drei kurzen Passagen atemlose Stille zu erzeugen. Da fällt es nicht einmal auf, dass er vor dem Vortrag den Buchtitel unterschlägt.

Oberbürgermeister Jung bei seiner Lesung in der Moritzbastei. Foto: Detlef M. Plaisier
Oberbürgermeister Jung bei seiner Lesung in der Moritzbastei. Foto: Detlef M. Plaisier

„Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ – ein Satz, der aktuell auf viele Lebensbereiche passt. Die Autorin Taiye Selasi verwendet ihn als Titel für ihren Debutroman, der 2013 uneingeschränktes Lob fand. „Schlicht atemberaubend“ attestierte die FAZ, und der SPIEGEL entdeckte „vielschichtige, großartige Literatur“. Jung wurde zur Buchmesse auf den Titel aufmerksam. Er teilt die Begeisterung, dämpft aber vor dem ersten Kapitel: „Ich mute Ihnen etwas zu, und es beginnt gleich mit dem Tod.“

Taiye Selasi zeichnet in ihrem Werk Innenansichten einer US-amerikanischen Familie, die wir heute als Multikulti bezeichnen würden. Sie selbst ist Kind dieser Kultur: Geboren in London als Tochter einer nigerianisch-schottischen Mutter und eines ghanaischen Vaters, wuchs sie in den USA auf. Ihr Roman zerstört schleichend und schonungslos das Idyll der Integration und wandelt es in einen Albtraum aus Demütigung, Ausgrenzung und Verrat. Dafür wählt Taiye Selasi eine poetisch-eindringliche Sprache, die grausam ist und zerbrechlich zugleich.

„Ich lese so schrecklich gerne vor.“ Burkhard Jung spielt es heute aus: Er versenkt sich in den Text, erschafft Bilder und akzentuiert variantenreich das Tempo. Enge in der linken Brust, eine geballte Faust – jede Geste ist stimmig.  Der Multikulti-Schnupperkurs hat Lust gemacht: Nicht unbedingt auf Multikulti, aber auf die Geschichten von Taiye Selasi.

Das liest der Oberbürgermeister (Teil 1): Spröde Kost wohl akzentuiert

[Der Mann für den Text] Buchmesse schmeckt 2013: Dr. Hinrich Lehmann-Grube liest in der Moritzbastei Leipzig
[Der Mann für den Text] Buchmesse schmeckt 2013: Dr. Hinrich Lehmann-Grube liest in der Moritzbastei Leipzig, Foto: Detlef M. Plaisier
Ich habe mich darauf gefreut, ihn wiederzusehen. Bis 1990 war Dr. Hinrich Lehmann-Grube Oberstadtdirektor der Landeshauptstadt Hannover und damit mein Dienstherr als Beamter. Danach ging er bis 1998 als Oberbürgermeister in Hannovers Partnerstadt Leipzig, wo ich heute lebe. Leipzig hat ihm viel zu verdanken. Sein Politikansatz des „Leipziger Modells“ ist niemandem nach ihm wieder gelungen. In seine Amtszeit fiel auch die Entscheidung, die Moritzbastei kulturell und nicht kommerziell zu nutzen – und genau dort treffen wir uns heute. Dr. Lehmann-Grube (ja, er hört den akademischen Grad gerne, und es wirkt bei ihm gar nicht arrogant) liest im Schwalbennest der Moritzbastei im Rahmen der Reihe „Buchmesse schmeckt“.  Die Küche des Veranstalters serviert dazu zwei verschiedene Suppen.

Er wirkt etwas verloren bei seiner Ankunft. Niemand begrüßt ihn und nimmt ihm den Mantel ab. Beim Kaffee an der Theke sortieren wir gemeinsame Erinnerungen. Seine geliebte Bratsche, die er anerkannt virtuos beherrscht, hat Lehmann-Grube zuhause gelassen. Welches Buch hat er mitgebracht? „Ein Streichinstrument spielt auch eine Rolle“, verrät er vorab. Und soviel: „Ich lese nach Stimmungslage. Mal ist mir nach Geschichte, mal möchte ich unterhalten werden.“

Cover Uwe Tellkamp, Der Turm im Suhrkamp Verlag
Cover Uwe Tellkamp, Der Turm im Suhrkamp Verlag

Zum Beginn um 12:12 Uhr haben sich etwa 30 Zuhörer eingefunden; enttäuschend, wie ich finde. Lehmann-Grube stellt sein „jüngstes Lieblingsbuch“ vor und dämpft gleich die Erwartungen: „Der Turm“ von Uwe Tellkamp sei „spröde und vielschichtig“, 1000 Seiten dick, und er arbeite es zum zweiten Mal durch, um alle Schichten zu erfassen. Das Buch erzählt die Geschichte einer Arztfamilie rund um den Chirurgen Richard Hoffmann in den 1980er-Jahren im Turm, einem fiktiven luxuriösen Villenviertel in Dresden. Autor Uwe Tellkamp, selber ausgebildeter Arzt, erhielt für seinen Vorwenderoman als Verarbeitung seiner eigenen Biografie 2008 den Deutschen Buchpreis.

Lehmann-Grube liest wohl akzentuiert von einem Besuch auf der Kohleninsel, Symbol für sozialistische Behörden. Tatsächlich: Eine Geige kommt vor, der bescheinigt werden soll, dass sie nicht zum unverzichtbaren Kulturgut gehört, dazu gesellen sich muffige Behördenflure mit wägelchenschiebenden Kittelboten und vollfleischigen Grünpflanzen …. Gerade als sich Charaktere und Bilder in meinem Kopf formieren, endet die Lesung abrupt, und ich bleibe etwas ratlos zurück. Aber das ist das Konzept von „Buchmesse schmeckt“: Eine Mittagspause soll es sein, nicht eine abendfüllende Lesung. Zum Schluss gibt es ein Erinnerungsfoto und einen Eintrag in mein Gästebuch. Von Herzen „Auf Wiedersehen“!