Tag der Kriegsenkel (II): Matthias Lohre liest zum Elbe Day in Torgau

Matthias Lohre liest in Torgau. Foto Detlef M. Plaisier

Und wieder stehen mir Tränen in den Augen. Wenn ich es nicht schon seit der Beschäftigung mit der Biografie meines Vaters und der Lesung von Matthias Lohre auf der Leipziger Buchmesse wüsste, so wäre mir spätestens jetzt klar: Die Last als Kriegsenkel hat mein Handeln über Jahrzehnte bestimmt, die Befreiung bewirkt jetzt eine späte Wende in meinem Leben.

Matthias Lohre liest die ersten beiden Kapitel seines Buches. Dabei wählt er einen anderen Weg als Sabine Bode, die das Thema Kriegsenkel in Deutschland ins Bewusstsein rief. Statt Theorie und konstruierter Lebensbeispiele wagt er das Private. Er erzählt vom Tod seines Vaters als Geisterfahrer, lässt weitere Einblicke in sein Leben zu. Doch genau das verlangt Lohre auch seinen Lesern ab. Wer sich einlässt, wird auf einen Weg geführt, der fordert: Sich erinnern, Schmerz und Trauer zulassen, schließlich Ballast abwerfen und neues Lebensglück finden. Lohre versteht es journalistisch geschickt, schon früh im Text Betroffenheit auszulösen und dem Leser die Entscheidung zu überlassen, ob er ihm folgen will.

Impression aus dem Reichsarbeitsdienst 1943. Foto: Archiv Detlef M. Plaisier
Impression aus dem Reichsarbeitsdienst 1943. Foto: Archiv Detlef M. Plaisier

Rund zwanzig Gäste in der Stadtbibliothek Torgau waren dazu bereit. Lohres Weg der Traumabewältigung trägt schnell Früchte: Auch die Zuhörer öffnen ihr Privatleben. Einer erzählt von der Vertreibung mit der Familie 1944 aus Ostpreußen, damals drei Jahre alt. Seine Generation sei um die eigene Jugend komplett betrogen worden, und doch wurde keiner der Mitschüler und Kommilitonen aus der Lebensbahn geworfen. Wir packen das, nur dieses Motto galt, und unsere Kinder sollen es einmal besser haben. Null Bock? Undenkbar. Gibt es Unterschiede in der Aufarbeitung zwischen Ost und West? Schon Sabine Bode hatte Probleme, im Osten Deutschlands Gesprächspartner zu finden. Die Menschen im Osten, so ein Zuhörer, seien von einer Diktatur in die andere gerutscht; da sei es doch nicht verwunderlich, dass man persönliche Verletzungen nicht gerne preisgebe.

Die Verdrängung als Kraftquell, um das äußerliche Leben zu meistern – Matthias Lohres Analyse trifft offenbar das Lebensgefühl vieler. Man könne mit der Verdrängung sein Leben beenden, so eine Stimme, doch wer aufarbeite, dem gehe es deutlich besser. Und genau dazu will Matthias Lohre ermutigen: Man kann erkennen, dass eine traumatisierte Generation die kommende zeugt und die Kultur der Untertanen fortlebt. Man kann betrauern, was in der Kindheit so furchtbar schief gelaufen ist. Und dennoch kann man umkehren und die Verursacher des eigenen Leids lieben. Ich habe es durch die Beschäftigung mit dem Thema gelernt.   

www.matthiaslohre.de

© Lesungsfoto: Detlef M. Plaisier

Mein "Tag der Kriegsenkel" auf der Leipziger Buchmesse

Der erste Buchmessetag 2016 war mein „Tag der Kriegsenkel“. Am Nachmittag überreichte ich dem Acabus Verlag das Manuskript der Lebensbiografie meines Vaters, die zu weiten Teilen vom Thema Kriegsenkel durchzogen ist. Am Vormittag stellten die Autoren Raymond Unger („Die Heimat der Wölfe“) und Matthias Lohre („Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht“) ihre Bücher zum unverarbeiteten Kriegstraumata vor. Die Parallelen sind verblüffend.

Raymond Unger auf der Leipziger Buchmesse 2016. Foto Detlef M. Plaisier
Raymond Unger auf der Leipziger Buchmesse 2016. Foto Detlef M. Plaisier

Raymond Unger (Jahrgang 1963) legt ein „anderes“ Kriegsenkelbuch vor: kein Sachbuch, sondern eine in Anekdoten erzählte Familiengeschichte, die Persönliches seiner Vorfahrengenerationen aus Bessarabien (heute Moldawien) mit europäischer Geschichte verwirkt. Unger nutzt dafür eigene Erinnerungen, Tagebücher und Tonbandaufzeichnungen. „Vor fünf, sechs Jahren“, so der Autor, der auch als Kunstmaler, Coach und Psychotherapeut tätig ist, „hätte ich den Begriff Kriegsenkel noch gar verwendet. Ich hätte ein Buch über Familientraditionen, über Sucht und fundamentale Religionen geschrieben.“ Doch während der Arbeit sei ihm klar geworden, dass es tiefere Gründe gebe für akute Probleme in Familienstrukturen: „Die verkannten Kriegstraumata der Großeltern- und Elterngeneration, die Dämonen der 1940er Jahre, konnten weder durch Alkohol noch durch exzessive Hobbys gebändigt werden. Und ich, kinderloser Angehöriger der Babyboomer-Generation, beende jetzt den Reigen der Weitergabe und steche die giftigen Blasen auf.“

Ich habe erste Kapitel gelesen. Wie mein Vater, erzählt Unger nicht zeitlich chronologisch, sondern setzt im Erzählfluss zeitliche und örtliche Orientierungsmarken für den Leser. Seine Familienchronik, beginnend im Jahr 1924, drei Jahre vor der Geburt meines Vaters, zeichnet ebenso ein Sittengemälde der Zeit: hier Überleben und Anpassung im Dritten Reich, dort der allmähliche Verfall des deutschen Wirtschaftswunders. Die Wahl eines anekdotischen Familienromans erweist sich als richtig: So wird der Stoff prägnanter und zugleich unterhaltsamer.

Das Erbe der Kriegsenkel von Matthias Lohre
www.randomhouse.de

„Die Elterngeneration krempelte die Ärmel auf, um die äußeren Trümmer zu beseitigen. Die seelischen Trümmer zu beseitigen – das ist Aufgabe der Enkel.“

Dieses Zitat vom Kriegsenkel-Kongress in Göttingen umreißt klar die Aufgabe: Nicht verdrängen, sondern sich in den (Gegen-)Wind stellen, zuhören und kraftvoll bewältigen. Doch das geht nicht ohne Hilfe der Alten, ohne  Unterstützung derer, die nur selten ihr Schweigen über erlebtes Grauen brechen und ihre Traumata stumm weitergeben. Matthias Lohre (Jahrgang 1976) ist Politikjournalist in Berlin. Sein Ansatz: Nicht verarbeitete Traumata der Großelterngeneration erzeugen bei Kriegsenkeln mangelndes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle und diffuse Ängste. Sie leiden unter einer Katastrophe, die sie selbst nicht erlebt haben. Lohre beginnt seine Nachforschungen nach dem Tod seines Vaters Ende 2012, geht die Wege seiner Eltern (Jahrgänge 1931 und 1937) nach, spricht mit noch lebenden Verwandten und zieht Therapeuten hinzu. Er muss „mitten hinein springen ins tiefe Dunkle, was uns trennt.“ Die mögliche Lösung ist Versöhnung.

Videointerview mit dem Autor hier
Lesungstipp: Matthias Lohre liest am Freitag, 22. April 2016, ab 19:00 zum „Elbe Day“ in der Stadtbibliothek Torgau.

www.kriegsenkel.de