Rezension: Johannes Anyuru, Ein Sturm wehte vom Paradiese her

Angesichts der aktuellen Flüchtlingsströme ist die Thematik in „Ein Sturm wehte vom Paradiese her“ aktueller denn je: Johannes Anyuru erzählt die Geschichte seines Vaters, der über zahlreiche Stationen aus Uganda nach Schweden floh und doch nirgendwo eine Heimat fand.

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Der Inhalt
Ein Mann sitzt im Zug. Er weiß weder, was er dort macht, noch was er erlebt hat. Lediglich der Vollmond, der gerade über dem Horizont steht, ruft einen Schimmer Erinnerungen hervor. Seine eigene Geschichte kennt er aber immer noch nicht.

Der Mann ist der Vater des Autors.  Er wollte Kampfpilot in der ugandischen Luftwaffe werden und durchlief in den ausgehenden 1960er Jahren in Athen eine entsprechende Ausbildung. Doch kurz vor seinem Examen putschte sich Idi Amin 1971 an die Macht in Uganda. Seine Herrschaft sollte sich als eines der blutigsten Regimes in Afrika erweisen. Nun trifft der junge Mann eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen: Entgegen den Befehlen kehrt er nicht nach Uganda zurück, sondern flüchtet nach Somalia, wo er schließlich aufgegriffen und auf brutale Weise verhört wird. Schließlich führt ihn seine persönliche Odyssee nach Schweden. Doch Heimatgefühl stellt sich nie ein.

Wenn der Sturm der Geschichte persönliche Schicksale hinwegfegt
Der Autor nutzt mehrere Zeitebenen, um die Geschichte seines Vaters zu erzählen, der selbst ohne Vater aufgewachsen ist. Seine einfühlsamen berühren mich als Leser. Doch Johannes Anyuru erzählt mehr als seine Familiengeschichte, mit der er auch einen Teil seiner persönlichen Vergangenheit aufarbeitet. Er vermittelt mir als Leser ein Gefühl dafür, wie Flüchtlinge den Verlust von Heimat und persönliche Einsamkeit empfinden. Mich beeindruckt, wie sehr es Johannes Anyuru schafft, aus der Distanz zu schreiben, obwohl er einen Teil seiner persönlichen Vergangenheit schildert.

Mein Fazit
Ein fesselnder und berührender Roman über das Schicksal eines Menschen, dessen persönliche Zukunft durch den Lauf der Geschichte brutal verändert wird. Leseempfehlung!

Johannes Anyuru, Ein Sturm wehte vom Paradiese her
Luchterhand Literaturverlag, München 2015
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Hugo Hamilton, Jede einzelne Minute

Der irisch-deutsche Autor Hugo Hamilton wurde 1953 in Dublin geboren. Hamilton feierte als Autor international Erfolge und arbeitet inzwischen auch als Dramatiker.

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„Jede einzelne Minute“ erzählt die Geschichte einer Reise von Úna und Liam, zwei irischen Schriftstellern. Ùna ist schwer krank und wünscht sich kurz vor ihrem Tod mit ihrem jüngeren Freund Liam, nach Berlin zu fahren. Die Geschichte ist angelehnt an eine Reise, die der Autor Hugo Hamilton 2008 mit der irischen Schriftstellerin Nuala O’Faolain unternahm, die damals an Krebs erkrankt war.

Der Leser begleitet Ùna und Liam auf ihrem Sightseeing Trip durch Berlin. Dabei geht es weniger um ihre Erlebnisse in der Stadt, sondern vielmehr um ihre Lebensgeschichten, die sie sich einander im Laufe der Tage erzählen. Hugo Hamilton schafft es, diese Anekdoten kurzweilig zu gestalten. Die Sätze stecken voller Weisheit und ohne jeden belehrenden Zeigefinger. Hamilton verpackt die Anekdoten vielmehr in poetische Sätze und Dialoge. Auch die Freundschaft der beiden Protagonisten wird berührend erzählt. Ùna ist eine sehr bestimmte alte Dame, um die sich Liam sehr fürsorglich kümmert und sie gleichzeitig bewundert. Eine einprägsame Szene spielt sich im Taxi ab, in dem Liam Ùnas Zehnnägel schneidet. Die beiden Protagonisten schätzen einander als Schriftsteller und sind genau deswegen gnadenlos ehrlich zueinander. Sehr respektvoll kommentieren sie das Leben des anderen und teilen ihre Gedanken über Ùnas baldigen Tod.

Die einzige Schwachstelle des Buches ist die Rolle von Berlin. Die Stadt wirkt im Buch auf mich wie eine lieblose Kulisse, sehr oberflächlich dargestellt. Das will so gar nicht zur sonstigen Tiefe der Geschichte passen. Sehr passend wiederum ist das einfühlsame Nachwort von Elke Heidenreich. Sie beleuchtet noch einmal die Beziehung zwischen Hugo Hamilton und Nuala O’Faolain als Hintergrund des Romans, was mir als Leserin sehr geholfen hat, das Buch besser zu verstehen.

Ein sehr berührendes Buch voll Weisheit und menschlicher Wärme.

Hugo Hamilton, Jede einzelne Minute
In der Übersetzung von Henning Ahrens
Luchterhand, 2014
Autorin der Rezension: Franziska Schmidt

Rezension: Karl Ove Knausgård, Leben

Mancher Leser ist von den ersten Seiten des Romans vielleicht gelangweilt, doch andere sind von der ersten Seite an gefesselt. In „Leben“, dem vierten Teil seines autobiographischen Projekts, schildert der Autor die Zeit Mitte der 1980er Jahre, als er in einen neuen Lebensabschnitt startete.

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Darum geht es im Leben
Nachdem Karl Ove Knausgård mit 18 das Gymnasium abgeschlossen hatte, ging er zunächst mit großen Plänen in den Norden Norwegens. Dort wollte er Schriftsteller werden, sich dem Alkohol und Sex hingeben und vor allem geregelte Arbeit vermeiden. Doch sobald der Protagonist seine Stelle angetreten hat, springt der Autor auch schon in die Vergangenheit. Der Leser erfährt von den Besäufnissen des Protagonisten, welche Musik er am liebsten gehört und welche Bücher er am liebsten gelesen hat. Der Autor erzählt sein Leben also nahezu lückenlos nach. Überstrahlt wird die Geschichte von der großen Frage nach der Zukunft und dem Verhältnis des Protagonisten zu seinem Vater.

Chronologie? Unnötig!
Zwar schildert Karl Ove  Knausgård den Kampf seines Lebens, allerdings alles andere als chronologisch. Er springt zwischen den Zeiten, wie eben gerade die Erinnerungen kommen. Damit dürfte sich „Leben“ eher als Entwicklungsroman einordnen lassen, in dem ein junger Mensch versucht, seinen Platz im Leben zu finden. Dabei ist das Ziel für den Protagonisten klar: Er ist nicht in den Norden des Landes gereist, um Menschen kennenzulernen oder Erfahrungen zu machen, sondern um Ruhe zu finden. Zudem erzählt der Autor in seiner bekannt schmucklosen Weise vom Umgang mit den Schülern, die nur wenig jünger sind als er, und deren Selbstfindungsprozess. Zwar wirkt dieser Stil oft ausufernd, jedoch meist auch gnadenlos ehrlich. Es scheint, als hätte er die Reise in den Norden nur angetreten, um sich des Vaters zu entledigen. Jedoch kehrt er später zu ihm zurück, als er aus dessen Notizen zitiert.

Mein Fazit
Karl Ove Knausgård erzählt die bewegende Geschichte eines jungen Menschen, der sich von seinem zunehmend alkoholsüchtigen Vater abnabeln möchte. Er meistert dies auf eine äußerst unaufgeregte Weise und schildert in erster Linie die tatsächliche oder fiktive Realität. Wer den Stil und fiktional erzählte Realität mag, wird „Leben“ lieben.

Karl Ove Knausgård, Leben
Luchterhand, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Leben-9783630874135
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Benjamin Percy, Jemand wird dafür bezahlen müssen

Benjamin Percy legt in seiner Kurzgeschichten-Sammlung „Jemand wird dafür bezahlen müssen“ Erzählungen über das Erwachsenwerden vor, über die Kämpfe junger Männer mit ihren ganz persönlichen Dämonen, und über die Narben, die danach auf der Seele zurückbleiben. Zehn Geschichten über junge Männer, die glauben, sich und der Welt beweisen zu müssen, dass sie stark, unabhängig und unverletzbar sind – und daran scheitern.

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Das Leben ist kein Kinderspiel
Angesiedelt in einer ländlichen Gegend in Oregon, in Kleinstädten am Fuße der Cascade Mountains, zeigen Percys Geschichten jene Probleme auf, die sonst gerne totgeschwiegen werden: Es ist die Hoffnungslosigkeit amerikanischer Jugendlicher, die im ländlichen Raum kaum Zugang zu Bildung haben, die sie aus der Kleinstadt entkommen ließe. Es sind die eintönigen Jobs und immer dieselben Hobbys: Jagen, Fischen, Autotuning. Es ist der Irak-Krieg, der vielen Familien die Väter, Brüder und Söhne nimmt oder sie als traumatisierte Veteranen heimkehren lässt. Und es sind die traditionellen Vorstellungen von Ehe und Familie und darüber, wie ein „richtiger Mann“ zu sein hat. Das alles prägt das Leben der Hauptfiguren in Percys Erzählungen. Ob Teenager, deren Väter aus der Tristesse der Kleinstadt in den Irak-Krieg geflohen sind und die nun täglich vergeblich auf Emails hoffen, ob ein verrückter Bär, der einen Jagdausflug zum Alptraum werden lässt, oder eine Fehlgeburt, die ein junges Paar an die Grenzen seiner Belastbarkeit treibt – die Auslöser für die Bewährungsproben sind vielfältig. Und es braucht den ganzen Mut der Protagonisten, damit umzugehen.

Das öde Land zwischen den Zeilen
Benjamin Percy zeigt in seinen Erzählungen Menschen und Situationen, die eintönig, grau und ein hoffnungslos sind. Die Benachteiligung der amerikanischen Kleinstädte ist zwischen den Zeilen greifbar. Schleppend, fast träge lesen sich die Geschichten, immer unaufgeregt und gleichmütig fließen sie dahin. Auch dann, wenn Menschen töten oder verzweifeln  – die Sprache bleibt gleich. Durch diese scheinbare Banalisierung schrecklicher Ereignisse wirken diese jedoch umso plastischer und lassen begreifen, warum die Protagonisten so geworden sind, warum sie so leben.

Mein Fazit
Der Erzählstil und die Tristesse sind gewöhnungsbedürftig. Die Langsamkeit der Geschichten ließ mich schon einmal ein paar Seiten nach vorne blättern, in der Hoffnung, die Handlung nimmt Fahrt auf. Doch dabei überliest man leicht den entscheidenden Punkt – und beginnt wieder von vorn. Eine Kurzgeschichten-Sammlung für jene, die das stille Grauen unter einer scheinbar biederen Fassade sehen und sich darauf einlassen wollen.

Benjamin Percy, Jemand wird dafür bezahlen müssen (in der Übersetzung von Klaus Berr)
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Jemand-wird-dafuer-bezahlen-muessen-9783630874647
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Sabine Rennefanz, Die Mutter meiner Mutter

Mit dem Satz „Ich habe etwas über deinen Großvater herausgefunden…“ leitet die Journalistin Sabine Rennefanz eine autobiographisch angehauchte Reise in eine persönliche Vergangenheit ein. Die Geschichte einer Familie hat sich bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zugetragen. Jedoch sind die Folgen bis ins 21. Jahrhundert hinein zu spüren, wenngleich sie sich oft nicht artikulieren lassen.

Quelle: www.randomhouse.de
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Der Vergangenheit auf der Spur
Die Hauptfigur des Romans ist Großmutter Anna. Sie musste im Alter von 14 Jahren mit ihrer ungeliebten Stiefmutter und drei Brüdern aus der polnischen Heimat in den Westen flüchten. Die historische Patchworkfamilie nahm in Kosakendorf, einem Flecken in der späteren DDR, Zuflucht. Anna fand eine Anstellung als Magd auf einem Bauernhof. Ihr Leben änderte sich schlagartig, als 1949 der 20 Jahre ältere Friedrich Stein aus der sowjetischen Gefangenschaft zurückkehrt. Er hatte zuvor auf dem Hof gearbeitet. Anna jedoch meidet den Mann, weil sie Angst vor seinen traurig wirkenden Augen hat. Trotzdem wird sie gezwungen, ihr Leben an seiner Seite zu verbringen: Er überfällt sie eines Nachts und vergewaltigt Anna, woraufhin diese schwanger wird. Die Dorfbevölkerung, die Anna Zeit ihres Lebens fremd sein wird, zwingt sie zur Heirat. Sie fügt sich und gebiert drei Töchter, vor denen sie ihr düsteres Geheimnis in jedem Fall verbergen möchte.

Das Knäuel wird entwirrt
Sabine Rennefanz erzählt die Familiengeschichte in der Ich-Perspektive aus der Sicht der Enkelin. Das wirkt in einigen Passagen etwas verwirrend, weil die Geschehnisse aus unterschiedlichen Zeiten oft parallel und in einer Rückblende geschildert werden. Die Autorin bedient sich in ihrer Erzählung jedoch eines sachlich neutralen, fast schon emotionsbefreiten Stils. Das wiederum bewirkt, dass die eigentliche Tragödie und deren Folgen umso eindrucksvoller erscheinen.

Fazit
Sabine Rennefanz ist ein grandioses Werk über die Folgen des verheerenden Krieges in Europa gelungen, die vermutlich in allzu vielen Familien bis in die Gegenwart hinein totgeschwiegen werden. Für manchen Leser kann das Werk Anregung sein, sich auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit zu machen. Wer jedoch einige Bruchstücke aus der Kriegsgeschichte der Großeltern kennt, die schreckliche Ereignisse vermuten lassen, entscheidet sich vielleicht eher dazu, endgültig mit der Vergangenheit abzuschließen. Wer Mut gefasst hat, dem sei die Trilogie zu Kriegskindern und Kriegsenkeln von Sabine Bode als Einstieg empfohlen.

Sabine Rennefanz, Die Mutter meiner Mutter
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Mutter-meiner-Mutter-9783630874548
Autoren der Rezension: Harry Pfliegl / Detlef M. Plaisier

ZDF aspekte Literaturpreis: Das sind die sechs Nominierten

Das Finale des ZDF-„aspekte“-Literaturpreises für das beste literarische Debüt des Jahres 2015 haben sechs Romane erreicht:

  • Kristine Bilkau, Die Glücklichen
  • Mirna Funk, Winternähe
  • Franziska Hauser, Sommerdreieck
  • Kat Kaufmann, Superposition
  • Richard Schuberth, Chronik einer fröhlichen Verschwörung
  • Dimitrij Wall, Gott will uns tot sehen

Der Preisträger oder die Preisträgerin des ZDF-„aspekte“-Literaturpreises 2015 wird am Freitag, 9. Oktober 2015, in „aspekte“ bekannt gegeben. Mitglieder der Jury sind Jana Hensel (Autorin), Ursula März (Die Zeit), Daniel Fiedler (Redaktionsleiter ZDF Kultur Berlin), Clemens Schick (Schauspieler) und Volker Weidermann („Das Literarische Quartett“, Der Spiegel).

Die Preisverleihung findet am 15. Oktober um 10.30 Uhr am ZDF-Stand im Rahmen der Frankfurter Buchmesse statt. Das ZDF vergibt den „aspekte“-Literaturpreis seit 1979 für das beste deutschsprachige Prosa-Debüt. Er ist mit 10 000 Euro dotiert.

Ich drücke Kristine Bilkau alle Daumen! Eine Rezension zu ihrem nominierten Debut gibt es hier.

http://twitter.com/ZDFaspekte

Rezension: Roger Cockrell (Hrsg.), Michail Bulgakow – Ich bin zum Schweigen verdammt. Tagebücher und Briefe

Michail Bulgakow erlebte nicht einmal seinen 49. Geburtstag. In seinem kurzen Leben war er erst Arzt, dann Schriftsteller, Feuilletonist, Dramatiker, Schauspieler und Regisseur. In der UdSSR wurde er lebendig begraben – dennoch gab er nie auf. Seine Briefe und Tagebucheinträge zeigen den fortwährenden Kampf des Künstlers gegen Armut, Krankheit und Zensur.

Quelle: www.randomhouse.de
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Nach Russland verbannt, zum Schweigen verdammt

Auf den ersten Seiten des Bandes, welche die Jahre 1921 bis 1925 umfassen, wechseln sich Briefe und Tagebücher chronologisch geordnet ab. Hauptsächlich dokumentiert Bulgakow in diesen Jahren seine finanzielle Notlage, generell den Verlauf der Nachkriegsinflation und die politischen Entwicklungen Europas. Notizen seines Privatlebens sind ausgesprochen rar, nicht einmal die Scheidung von seiner ersten Frau erwähnt er. Im Mai 1926 wurden Bulgakows Tagebücher beschlagnahmt, von da an gibt es nur noch Briefe. Aus Bulgakows Korrespondenz erfahre ich, an welchen Stücken er gerade arbeitete und wie er gegen die vom Zensus gewünschten Umänderungen derselben kämpfte. Ab 1928 spitzt sich die Lage Bulgakows dramatisch zu. Der Künstler bittet wiederholt vergeblich um die Genehmigung einer Auslandsreise. Seine Stücke werden nach und nach verboten, seine Erzählungen nicht mehr gedruckt. Mit der Bitte um Ausweisung aus der UdSSR wendet er sich 1929 an Stalin persönlich und teilt mit: „[Ich] bin mit meinen Kräften am Ende; außerstande, weiterhin zu existieren, abgehetzt, wissend, dass ich innerhalb der UDSSR weder gedruckt noch aufgeführt werde […]“ Bulgakows Gesuch bleibt unbeantwortet. Nach einem langen Brief an die Regierung wird er immerhin zum Regieassistenten und Dramaturg ernannt. Dies bewahrt den Schriftsteller vorm Hungertod, doch da er nun maßgeblich Auftragsstücke verfasst, bleibt er weiterhin „zum Schweigen verdammt“.

Dürftig kommentiert, schlecht lektoriert

Stets mit dem Zeigefinger zwischen den Anmerkungen im Anhang des Buches, stolpere ich stirnrunzelnd durch Bulgakows Briefe und Notizen. Die Namen und Zusammenhänge verwirren mich. Ich verbringe mehr Zeit mit dem Vor- und Rückblättern, als dem eigentlichen Lesen. Mehr als einmal wünsche ich mir eine kurze Erklärung, einen biographischen oder historischen Verweis. Doch Fehlanzeige. Zu den verwirrenden Nachnamen fügen die Anmerkungen lediglich zwei oder mehr verwirrende Vornamen hinzu, sowie die kurze Notiz „Autor“ oder „Regisseur“. Nichts Erhellendes für den Kontext, in dem Bulgakow die Personen erwähnt. Spätere Anmerkungen verweisen gern auf frühere, laufen dabei aber oft ins Leere – vermutlich hat eine letzte unvollständige Überarbeitung alles ein wenig verrutscht. Drastischer der Fehler im Vorwort, das behauptet, Bulgakow habe Alexej Tolstoi einen „dreckige[n] ehrlos[n] Narr[en]“ genannt. Im entsprechenden Brief aber sind dies die zitierten Worte Tolstois über sich selbst. Zum Verständnis der Briefsammlung bietet die unglücklich im Anhang platzierte Kurzbiographie eine magere Hilfe und trumpft mit der Information, dass Bulgakow für sein Medizinstudium von 1911-1916 ungewöhnlicherweise sieben Jahre brauchte.

Mein Fazit

Zugegeben, ich weiß jetzt mehr über den Autor, von dem ich „Meister und Margarita“ sowie „Aufzeichnungen eines jungen Arztes“ im Regal stehen habe. Und wer Bulgakow, sein Werk und die historischen Hintergründe bereits bestens kennt, mag Gefallen an diesen mangelhaft kommentierten Briefen finden. Allerdings frage ich mich: Fehlt Luchterhand neuerdings Geld für ein vernünftiges Lektorat?

Roger Cockrell (Hrsg.), Michail Bulgakow – Ich bin zum Schweigen verdammt
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Ich-bin-zum-Schweigen-verdammt-9783630874661
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Terézia Mora, Nicht sterben

Schon der Titel verband mich gleich mit dem Buch, denn als freiberufliche Journalistin und Autorin geht es immer ums Überleben. „Nicht sterben“ hieß für mich nichts anderes, als im Dschungel von Verlagen, Autoren und Lektoren irgendwie zu überleben. Mit jeder Seite mehr hatte es den Anschein, als seien Terézia Mora und ich seelenverwandt.

Quelle: www.randomhouse.de
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Ist mein Manuskript gut genug?
Das Buch hat mir gezeigt, dass ein Manuskript nie gut genug ist. Terézia Mora hat michbereichert. Eine Landschaft ist nicht einfach nur weiß. Du wirst immer mehr als drei Dinge finden, die Du beschreiben kannst. Je mehr Dinge du beschreibst, desto interessanter wird es für den Leser. Du musst Dich selber hineinversetzen in dein Buch. Du musst dir alle Dinge selber vor deinen Augen vorstellen können. Dann kann es der Leser auch. Je tiefgängiger und intensiver die Gedanken des Autors sind, desto lesenswerter ist das Buch.

Spielt Dein eigenes Leben eine Rolle?
Ob Franz Kafka oder Hans Christian Andersen, viele Autoren haben persönliche Probleme in ihren Büchern verarbeitet. Auch Terézia Mora bezieht sich in ihren Beispielen oft auf andere Autoren und Werke. Ausführlich nimmt sie sich „Durst“ in „Seltsame Materie“ (Rowohlt Verlag) vor und veranschaulicht, worum es beim Schreiben geht. Letztendlich spielt alles, was der Autor erlebt hat, eine Rolle. Jemand, der in einem diktatorischen Staat aufwächst, wird ganz anders schreiben als jemand, der sein Leben in einem demokratisch regierten Land verbracht hat. Mora erinnert sich hier an ihre Großmutter und der Frage danach, warum sie am See wohnte und keinen Fisch filetieren konnte. Die Antwort war einfach: Der See gehörte erst dem Bischof und später der LPG.

Alltagsgeschehnisse wirken auf das Handeln der Autoren
Terézia Mora nennt den 11. September 2001 eine Störung, die für eine Weile alles still legte. Sie stand genauso unter Schock, wie der Rest der Welt. Es war ihr unmöglich, eine Geschichte zu schreiben. Auch das konnte ich sehr gut nachvollziehen. Immer wieder sind die Geschehnisse des Alltags dafür verantwortlich, was in unseren Manuskripten steht. Ich denke, dass ich während der Euphorie der Fußballweltmeisterschaft mit viel mehr Elan und sehr positiv geschrieben habe. Nach dem Absturz der Germanwings viel es mir schwer, Reisereportagen zu verfassen.

Mein Fazit
Das Buch von Terézia Mora ist für Autoren eine Pflichtlektüre. Ich befasse mich seitdem noch intensiver mit meinen Manuskripten. Für Leser, die nicht selber schreiben, kann der Text eine Ermunterung zum Schreiben sein.

Rezension: Terézia Mora, Nicht sterben
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Nicht-sterben-9783630874517
Autorin der Rezension: Carina Tietz

Rezension: Roger Cockrell (Hrsg.), Michail Bulgakow – Ich bin zum Schweigen verdammt

Quelle: www.randomhouse.de
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Autor und Werk
Michail Afanassjewitsch Bulgakow wurde am 15. Mai 1891 in Kiew geboren und zählt zu den bedeutendsten Satirikern der russischen Literatur. Nach dem Abitur absolvierte er zunächst erfolgreich ein Medizinstudium, bevor er im Oktober 1921 nach Moskau ging und dort zu schreiben begann. An dieser Stelle setzt das Werk „Ich bin zum Schweigen verdammt“ an. Es umfasst die Briefe und einige Tagebucheintragungen Bulgakows aus den Jahren 1921 bis 1940 und wurde im März 2015 zu seinem 75. Todestag veröffentlicht.

Schreiben unter schwersten Bedingungen – Opfer der Zensur
Ließen sich die ersten Moskauer Jahre noch gut an (Bulgakow schrieb und publizierte in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften und veröffentlichte auch einige Prosastücke), wendete sich das Blatt im Jahr 1929 gravierend. Bei einer Hausdurchsuchung wurden Bulgakows persönliche Tagebücher sowie seine satirische Erzählung „Hundeherz“ beschlagnahmt und erste Verbote seiner Bücher und Theaterstücke auf den Weg gebracht.

Ab 1930 wurden die Werke Bulgakows endgültig nicht mehr veröffentlicht und seine Stücke verschwanden von den Spielplänen des Theaters. Eine unwürdige Existenz und ein Kampf ums Überleben begannen für den Mann, dessen Leben allein die Schriftstellerei war. In seinen Briefen beklagt er dies bei Freunden und Bekannten, sucht nach Rat und bittet um Hilfe – auch bei staatlichen Instanzen. Solle es keine Arbeit für ihn geben, dann wolle er wenigstens kurz das Land verlassen, um neue Kraft zu tanken oder Aufträge zu finden.

Gefangen im eigenen Land
Doch auch die Ausreise, und sei sie auch nur zu Urlaubszwecken, wurde Bulgakow verwehrt. Er war somit gezwungen, in Moskau zu bleiben, bei unveränderter Arbeitssituation und immer schlechterer Gesundheit. Bulgakow arbeitete als Dramaturg und schrieb, immer mit dem Wissen, nie veröffentlicht zu werden oder erneut dem Verriss und der Zensur zum Opfer zu fallen. Der Kampf gegen die Windmühlen setzte sich unerbittlich fort und sollte bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1940 nicht enden.

Politik und Schriftstellerei
Neben seinen Problemen als Schriftsteller wird in seinen Briefen und Tagebüchern auch das große Interesse am Zeitgeschehen deutlich. So beschäftigt er sich gerade in den ersten Jahren stark mit den politischen Geschehnissen in der UdSSR und der internationalen Situation außerhalb des eigenen Landes, die er mit scharfem Blick verfolgt.

Mein Fazit
Für mich sind Briefromane und Tagebuchaufzeichnungen immer ein besonderer Lesegenuss, schildern sie die Geschehnisse doch immer aus einer authentischen und persönlichen Sicht. „Ich bin zum Schweigen verdammt“ ist eine klare Buchempfehlung für jeden Leser, der biografische Lektüre zu schätzen weiß und dabei noch ein großes Interesse für den Menschen Bulgakow, Russland, das Theater und die geschichtlichen und politischen Ereignisse der Zeit hat. Ergänzt werden die Briefe und Aufzeichnungen durch einen ausführlichen biographischen und bibliographischen Anhang, sodass das Buch in seiner Gesamtheit zu einem unverzichtbaren Zeugnis des Lebens Bulgakows wird.

Roger Cockrell (Hrsg.), Michail Bulgakow – Ich bin zum Schweigen verdammt
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Ich-bin-zum-Schweigen-verdammt-9783630874661
Autorin der Rezension: Julia Groß
https://zimttraeumereien.wordpress.com/

Rezension: Steven Galloway, Der Illusionist

Was in unserer Erinnerung Fakt oder Fiktion ist, kann niemand so genau sagen. Allzu schnell werden unangenehme Erlebnisse verdrängt und nur die schönen Momente mit einer Person hervorgehoben. Schon wenn man drei Augenzeugen eines Vorgangs befragt, erhält man vier verschiedene Versionen der Ereignisse, einfach weil jedes Gedächtnis anders funktioniert. Dennoch verlässt sich der Mensch auf seine Erinnerungen mehr als auf Erzählungen anderer – was aber, wenn das Gehirn nicht mehr zwischen Erinnerung und erfundenen Geschichten unterscheiden kann?

Quelle: www.randomhouse.de
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Am Anfang ist die Krankheit
Martin Strauss erfährt von seinem Arzt, dass er an einer seltenen neurologischen Krankheit leidet, dem sogenannten Konfabulismus. Davon Betroffene erzählen objektiv falsche Dinge, bilden sich aber fest ein, diese wären wahr und sie hätten sie genau so erlebt. Martin Strauss wird also seine Erinnerungen verlieren und schon bald nicht mehr unterscheiden können, was wahr ist und was sich sein Gehirn nur ausgedacht hat. Dabei blickt Martin auf ein langes und wie er meint auch sehr ereignisreiches Leben zurück, hat er doch den weltberühmten Magier und Entfesselungskünstler Harry Houdini getötet – gleich zweimal. Zumindest glaubt er das und möchte seine Geschichte unbedingt aufschreiben, bevor er sie für immer vergisst. Sein Grund: Er möchte Alice, von der er glaubt, dass sie Houdinis Tochter ist, unbedingt die Wahrheit über ihren Vater und über sich selbst sagen.

Drei Handlungsstränge, zwei Leben, eine Geschichte?
Steven Galloway verwebt in seinem Roman drei Handlungsstränge miteinander. Zum einen die gut recherchierte und realistisch dargestellte Biographie des weltberühmten und bekannten Zauberers und Entfesselungskünstlers Harry Houdini. Zum zweiten das Leben des jungen Martin Strauss als Student in Montreal, wo er auf Houdini trifft und in dessen Verwirrspiele verstrickt wird. Das wiederum führt dazu, dass Martin den Zauberer gleich zweimal töten kann. Der dritte Erzählstrang behandelt die Gegenwart, als Martin auf einer Parkbank vor dem Krankenhaus sitzt und über seine Erinnerungen und sein Leben sinniert, bevor er diese beiden aus seinem Gedächtnis verliert. Oder hat er das vielleicht schon?

Mein Fazit
Unsicherheit ist faszinierend, zumindest im Fall dieses Buches. Die Houdini-Biographie ist gespickt mit korrekten Fakten, wie zum Beispiel der Bekanntschaft mit Sir Arthur Conan Doyle. Auch Martins Biographie und seine Version der Ereignisse beim Zusammentreffen mit Houdini in der Vergangenheit scheinen mehr als realistisch. Wenn, ja wenn da nicht die Gegenwart wäre und seine Krankheit. Denn in der Gegenwart tauchen bei Martin immer wieder Erinnerungsfetzen auf, die so nicht stattgefunden haben können, wenn er Houdini wirklich getötet hat. Bis zum Schluss bleibt offen, welche der Erinnerungen real sind und welche aufgrund des Konfabulismus erfunden wurden, um die Erinnerungslücken zu schließen. So bleibt es jedem selbst überlassen, zu entscheiden, was real in Martins Leben passiert ist. Genau das macht den Reiz des Buches aus. Denn seien wir ehrlich: Haben wir uns nicht selbst schon manchmal gefragt, ob ein Ereignis wirklich genauso stattgefunden hat, wie wir uns daran erinnern?

Steven Galloway, Der Illusionist
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Illusionist-9783630874579
Autor der Rezension: Harry Pfliegl