Anne Köhler liest bei Lehmanns: Atmosphärisch dicht und neue Blickwinkel

Anne Köhler stellte bei Lehmanns ihr Buch „Ich bin gleich da“ vor. Ich hatte es bereits gelesen, ein Autorenkollege hat für dieses Blog rezensiert. Der Verlag Dumont bewirbt den Text mit dem Schwerpunkt Küche und Kochen: „Für Elsa ist Kochen viel mehr als nur ihr Beruf oder die bloße Zubereitung einer Mahlzeit. Nur in der Küche gelingt es ihr, ihre Sorgen hinter sich zu lassen. … ein Roman über die Sehnsucht nach Familie und Geborgenheit – voller atmosphärischer Koch- und Küchenszenen.“ Doch Anne Köhler selbst setzt andere Schwerpunkte – was mich nach dem Abend veranlasst, das Buch noch einmal zu lesen.

Anne Köhler liest bei Lehmanns. Foto: detlef M. Plaisier
Anne Köhler liest bei Lehmanns. Foto: Detlef M. Plaisier

„Ich bin ein wahnsinniger Genussmensch.“ Anne Köhler gesteht es freimütig im Gespräch. „Wenn es mit dem Buch mal nicht vorwärts ging, war Kochen eine willkommene Ausrede.“ Sie habe sich lange „gegrämt“, nicht Köchin geworden zu sein. Doch nach der Recherche vor Ort in Spitzenrestaurants sei sie froh, dass Kochen privat geblieben ist, „einfach nur Entspannung und Vergnügen.“

Anne Köhlers eigene gastronomische Erfahrungen im Service und in einer Bistroküche waren letztlich nicht genug, um die Aktionen der Protagonistin Elsa in einer Sterneküche glaubhaft zu schildern. Was macht man da? Einfach bei Sterneköchen anfragen, ob man mal zusehen darf. Kolja Kleeberg war einer der ersten, der zusagte. Verdammt eng war es in der Küche, „gerade mal ein halber Quadratmeter, auf dem ich stehen konnte, ohne zu stören.“ Laut, heiß, viel Adrenalin – „es war heilsam“, sagt Anne Köhler rückblickend. Obendrauf gab’s noch eine Woche im Zwei-Sterne-Restaurant, „wo ich alle unliebsamen Tätigkeiten übernommen habe und die Jungköche freiwillig erzählten“ – so wurde die Recherche komplett. Überraschend ist Anne Köhlers Blick auf Köchin Elsa: „Sie hätte auch einen anderen Beruf ausüben können.“ Zu Beginn sei Kochen ja nicht ihre Leidenschaft gewesen, „und da war im Prinzip jeder Beruf möglich, der Kopf und Körper fordert und das Nachdenken verhindert.“

Als Anne Köhler liest, höre ich neue Glanzlichter: die Walpurgisnacht im Dorf, als wäre ich gestern dabei gewesen, das Spiegelbild eines Kindes im Wasser, das mit einem Schlag auf die Oberfläche zerstiebt – Anne Köhlers Stimmungen und ihre Stimme schmiegen sich an meine Gefühle an. Erst der kühle Abend bringt mich wieder zur Besinnung.

Rezension: Anne Köhler, Ich bin gleich da

Anne Köhler erzählt die Geschichte der Köchin Elsa, die in ihrem Beruf weit mehr sieht als nur ein Mittel zum Broterwerb oder eine Berufung. Nur beim Kochen kann sie ihre Sorgen, ihre Vergangenheit und die Probleme des Alltags vergessen. Zugleich bietet ihr die Arbeit in der Küche die Chance, ihrem Ziel – dem Meer – näherzukommen.

Die Sehnsucht nach der See hat Elsa von ihrem Vater übernommen, der verstarb, als er nachts während der Maifeiern in ihrem Heimatort in den Wäldern rund um die Maifeuer herum gestreift war. Elsa macht sich auch Jahre später noch Vorwürfe: Sie hätte rechtzeitig Hilfe holen können, so meint sie, wäre sie bei ihrem Vater und nicht so lange beim Maivergnügen geblieben.

Quelle: www.dumont-buchverlag.de
Quelle: www.dumont-buchverlag.de

Die Welt wird zu eng
Mit dem Tod des Vaters wird Elsa das Zuhause zu eng. Sie bricht die Schule ab und absolviert in einem anderen Ort eine Ausbildung zur Köchin. Anschließend wechselt sie mehrmals die Arbeitsstelle und arbeitet sich Stück für Stück weiter nach Norden, um eines Tages am Meer zu leben, das ihr Vater so sehr liebte.

Gefangen im XXL-Tempel
Als Anne Köhler in die Geschichte einsteigt, arbeitet Elsa in einem XXL-Restaurant irgendwo in der Mitte Deutschlands. Dort gilt nur eine Maxime: Groß und günstig muss es sein für den Gast. Scheinbar hat sich Elsa mit der Situation hier arrangiert, zumal sie eine Beziehung mit einem Kollegen eingeht. Dieser ist zwar liebenswert und möchte mit Elsa zusammen eine Zukunft aufbauen, denkt aber nicht über die Arbeit im XXL-Lokal oder die Stadtgrenzen hinaus. Als Elsa gekündigt wird, wagt sie den großen Sprung, reist nach Hamburg und findet eine Anstellung in einem Sterne-Restaurant. Sie lernt einen neuen Mann kennen, mit dem sich ihr Leben zu ändern scheint und stellt sich zu guter Letzt sogar den Schatten der Vergangenheit.

Kopfkino vom Feinsten
Die große Stärke des Romans besteht in der detaillierten Charakteristik der Personen. Anne Köhler zeichnet die Figuren liebevoll mit all ihren Marotten und Stärken, sodass im Kopf des Lesers unweigerlich ein Bild der Person entsteht. Die Autorin erzeugt ein sensibles Kopfkino, von dem „Ich bin gleich da“ lebt.

Mein Fazit
Wer eine actionreiche Handlung oder gar die Diskussion grundlegender moralischer Werte liebt, dürfte von „Ich bin gleich da“ enttäuscht sein. Denn Anne Köhler schildert „nur“ den Alltag und das seelische Innenleben einer ganz einfachen Frau. Das macht sie jedoch mit einer fesselnden Brillanz, wie es nur wenigen Autoren gelingt. Die erzählerische Stärke bei scheinbaren Nichtigkeiten macht „Ich bin gleich da“ zu einer der faszinierendsten Neuerscheinungen der jüngsten Vergangenheit.

Anne Köhler, Ich bin gleich da
Dumont, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Ich-bin-gleich-da-9783832197513
Autor der Rezension: Harry Pfliegl