Rezension: Terézia Mora, Nicht sterben

Schon der Titel verband mich gleich mit dem Buch, denn als freiberufliche Journalistin und Autorin geht es immer ums Überleben. „Nicht sterben“ hieß für mich nichts anderes, als im Dschungel von Verlagen, Autoren und Lektoren irgendwie zu überleben. Mit jeder Seite mehr hatte es den Anschein, als seien Terézia Mora und ich seelenverwandt.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Ist mein Manuskript gut genug?
Das Buch hat mir gezeigt, dass ein Manuskript nie gut genug ist. Terézia Mora hat michbereichert. Eine Landschaft ist nicht einfach nur weiß. Du wirst immer mehr als drei Dinge finden, die Du beschreiben kannst. Je mehr Dinge du beschreibst, desto interessanter wird es für den Leser. Du musst Dich selber hineinversetzen in dein Buch. Du musst dir alle Dinge selber vor deinen Augen vorstellen können. Dann kann es der Leser auch. Je tiefgängiger und intensiver die Gedanken des Autors sind, desto lesenswerter ist das Buch.

Spielt Dein eigenes Leben eine Rolle?
Ob Franz Kafka oder Hans Christian Andersen, viele Autoren haben persönliche Probleme in ihren Büchern verarbeitet. Auch Terézia Mora bezieht sich in ihren Beispielen oft auf andere Autoren und Werke. Ausführlich nimmt sie sich „Durst“ in „Seltsame Materie“ (Rowohlt Verlag) vor und veranschaulicht, worum es beim Schreiben geht. Letztendlich spielt alles, was der Autor erlebt hat, eine Rolle. Jemand, der in einem diktatorischen Staat aufwächst, wird ganz anders schreiben als jemand, der sein Leben in einem demokratisch regierten Land verbracht hat. Mora erinnert sich hier an ihre Großmutter und der Frage danach, warum sie am See wohnte und keinen Fisch filetieren konnte. Die Antwort war einfach: Der See gehörte erst dem Bischof und später der LPG.

Alltagsgeschehnisse wirken auf das Handeln der Autoren
Terézia Mora nennt den 11. September 2001 eine Störung, die für eine Weile alles still legte. Sie stand genauso unter Schock, wie der Rest der Welt. Es war ihr unmöglich, eine Geschichte zu schreiben. Auch das konnte ich sehr gut nachvollziehen. Immer wieder sind die Geschehnisse des Alltags dafür verantwortlich, was in unseren Manuskripten steht. Ich denke, dass ich während der Euphorie der Fußballweltmeisterschaft mit viel mehr Elan und sehr positiv geschrieben habe. Nach dem Absturz der Germanwings viel es mir schwer, Reisereportagen zu verfassen.

Mein Fazit
Das Buch von Terézia Mora ist für Autoren eine Pflichtlektüre. Ich befasse mich seitdem noch intensiver mit meinen Manuskripten. Für Leser, die nicht selber schreiben, kann der Text eine Ermunterung zum Schreiben sein.

Rezension: Terézia Mora, Nicht sterben
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Nicht-sterben-9783630874517
Autorin der Rezension: Carina Tietz

Rezension: Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther

Das Buch beginnt schleppend. Die Autorin bricht auf zu einer Reise ins Ungewisse und ist voller Erwartungen. Ihr Ausgangspunkt ist Berlin. Nach den ersten Seiten verspüre ich noch keine richtige Leselust. Doch je mehr ich über ihre Familie erfahre, desto mehr packt mich das Lesevergnügen.

Quelle: www.suhrkamp.de
Quelle: www.suhrkamp.de

Ein Kinderlied auf den Spuren der Ahnen
Das Buch lebt von Höhen und Tiefen. Eine ganze Reihe von Seiten beginnen vielversprechend. So findet die Autorin beispielsweise ein Telefonbuch, das sie dazu anregt, nach den Geschwistern ihres Großvaters zu suchen. Doch dann geht die Phantasie mit Katja Petrowskaja durch. Hatten ihre Großeltern eine Bank oder waren ihre Nachkommen sogar die Sänger von Velvet Underground? Arbeiteten sie vielleicht in einer Schuhmanufaktur oder in einer Knopffabrik? Katja Petrowskaja kommt zu dem Schluss, dass sie schließlich auch arbeiten müssen. Als Leser erwartet man eher realistische Vorstellungen. Schließlich endet das Kapitel mit dem berühmten Kinderlied von Hannes, der hier Joe heißt, und in einer Knopffabrik arbeitet. Das regt nicht wirklich zum Weiterlesen an.

Taubstumme Kinder in Warschau
Es dauert viele quälende Seiten, bis mich das Buch zum ersten Mal berührt. Katja Petrowskaja erzählt von ihren Vorfahren, die sich rührend um Waisenkinder in Warschau kümmerten. Sie gründeten Schulen für taubstumme Kinder. Herzergreifend empfand ich die Schilderungen über die Briefe der Eltern, die so voller tiefem Dank darüber waren, dass ihre vermeintlich taubstummen Kinder plötzlich jüdische und russische Worte sprechen und sogar Briefe verfassen konnten. Der Urgroßvater der Autorin galt als Heiler, obwohl er eigentlich nur Lehrer war und mit viel Geduld und Ausdauer auch taubstummen Kindern das Reden beibrachte. Jüdische Zeitungen feierten ihn als Helden, und man spürt deutlich, wie stolz die Autorin auf Urgroßvater ist.

Mein Fazit
Katja Petrowskaja ist auf der Suche nach ihren Ahnen. Mal ergreift mich das Buch, mal siecht es so dahin. Es kommt ganz darauf an, mit welchen Themen sich die Autorin beschäftigt. Über Dinge, die sie mit Stolz erfüllen, schreibt Katja Petrowskaja fesselnd und überzeugend. Leider kenne ich den Osten nicht persönlich. Ich war noch nie in Polen und in der Ukraine. Daher fehlt mir beim Lesen ein Stück Vorstellungskraft. Insgesamt hätte ich mir eine intensivere Beschreibung der Orte gewünscht.

Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther
Suhrkamp, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Vielleicht-Esther-9783518465967
Autorin der Rezension: Carina Tietz

Rezension: Gunnar Ardelius, Die Liebe zur Freiheit hat uns hierher geführt

Titel und Klappentext klangen mehr als interessant. Ich rechnete mit Parallelen zu meinem eigenen Leben, denn ich hatte selbst vor ein paar Jahren den großen Schritt gewagt und wanderte vorübergehend aus. Doch letztendlich gab es nur ganz wenige Gemeinsamkeiten. Ich konnte mich in Margrets Lage versetzen. Während der Mann seiner neuen Tätigkeit mit großer Begeisterung nachging, saß sie in einem tollen Haus und langweilte sich. Mir ging es ganz genau so, doch ging ich auf andere Art mit der Situation um und suchte mir schnell einen Job. Das lag sicherlich auch daran, dass ich aus voller Überzeugung diesen Weg gegangen war. Margret dagegen verspürt keine große Lust auf Afrika, sehnt sich nach dem kalten Wetter von Stockholm, vermisst ihren Liebhaber und lässt ihre ganze Wut an einem wehrlosen Dienstboten aus. Ihre Wutausbrüche hat sie immer weniger unter Kontrolle und am Ende bohrt sie dem ahnungslosen Schlangenjungen eine Stricknadel in den Oberschenkel.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Verloren in der Unabhängigkeitsbewegung Liberias
Schon bei der Ankunft in Liberia ist die Familie zerrüttet. Margret nimmt ein Geheimnis mit auf die Reise. Hektor weiß nicht nichts von ihrem Liebhaber und schon gar nichts von Margrets heimlicher Reise nach Polen. Hier ließ sie das Kind ihres Liebhabers abtreiben. Der Sohn Marten ist auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Er vermisst seine Freundin Laura und hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Dieser wird ihm am Ende fast zum Verhängnis, denn er solidarisiert sich mit den Minenarbeitern, streikt und wird schließlich von den Soldaten verhaftet. Die fehlende Mutterliebe sucht er woanders und freundet sich mit dem Schlangenjungen an. Die Freundschaft festigt sich. Margret kann den Schlangenjungen nicht leiden. Sie will ihn vertreiben, denunziert ihn und attackiert ihn verbal und körperlich. Auch Hektor hat Probleme. Er kommt mit seinem Vorgesetzten nicht klar und auch die Hitze macht ihm zu schaffen. Er wagt einen Spagat zwischen Job und Familie, denn die Solidarität seines Sohnes mit den Minenarbeitern bringt ihn immer wieder in Misskredit.

Ein fragwürdiger Titel
Der Titel animiert zum Lesen. Allerdings hält er nicht wirklich, was er verspricht. Am Anfang des Buches ist die Familie noch auf der Suche nach Freiheit und Abenteuer. „…ein Schnattern und Ticken, das sie an nichts erinnerte, was sie jemals gehört hatte.“ Die erste Nacht in Liberia ist voller Spannung. Doch mit jedem Tag mehr zerbrechen die Erwartungen. Mit jeder Seite mehr werden die Familienprobleme offen gelegt. Schon bald merkt der Leser, dass Margrets Familienproblem der Grund waren, nach Afrika zu gehen und keineswegs die Liebe zur Freiheit. Margret erinnert sich schon nach wenigen Tagen daran, wie gleichgültig sie Schweden verlassen hatte: „Mit Gleichgültigkeit betrachtet Margret den Schneematsch und die Brücke über die Åstra-Inseln.“ Doch nun sehnt sie sich zurück nach dem kalten Stockholm, nach den dunklen Tagen im Winter und nach den Schneemassen, die Schweden oft schon im Oktober überziehen. Irgendwann wird allen in der Familie klar, dass sie im fernen Liberia nicht vor ihren Problemen weglaufen können.

Mein Fazit
Ich erwartete eine Familie, die nach Afrika auswandert und sich dort mit den neuen Begebenheiten vertraut machen muss. Eine Familie, die voller Erwartung und Vorfreude ist und mit Überzeugung an einem anderen Ort ganz von vorne anfängt. Zwar setzen die Agierenden sich auch mit den Ereignissen in Liberia auseinander, aber das gesamte Buch wird von Familienproblemen dominiert. Trotzdem fesselt die Spannung, und besonders Margrets Charakterzüge haben mich mitunter erstarren lassen.

Gunnar Ardelius, Die Liebe zur Freiheit hat uns hierher geführt
Karl Blessing Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Liebe-zur-Freiheit-hat-uns-hierher-g-9783896675484
Autorin der Rezension: Carina Tietz

Rezensionsreihe Israel zur Leipziger Buchmesse 2015, Teil 5: André Herzberg, Alle Nähe fern

André Herzberg (Jahrgang 1955) ist Musiker, Sänger, Schauspieler, Moderator und Autor. Er stammt aus einer „streng kommunistischen“ (Vita) jüdischen Familie. 2000 erschien sein erster Erzählband Geschichten aus dem Bett. 2004 wurde sein autobiografischer Roman Mosaik veröffentlicht.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Startschwierigkeiten
Das Buch ist in jeder Hinsicht ungewöhnlich. Die ersten Seiten lassen noch keine wirkliche Lesefreude aufkommen. Ich kämpfe damit, dass das Buch im Präsens geschrieben ist. Es fällt mir dadurch deutlich schwerer, mich in die Vergangenheit zu versetzen. Allerdings bekommt das Buch dadurch auch eine gewisse Schnelligkeit. Dazu tragen auch die kurzen und knappen Kapitel bei, die von einer ungeheuerlichen Intensität sind. André Herzberg baut mit nur wenigen, aber intensiven Worten eine Dramatik auf, die mich dann doch fesselt.

Blankes Entsetzen
„Man wird ihnen sagen, sie sollten duschen. Nachher wird man verwerten, was von toten Körpern nützlich ist. Haare, Goldzähne, eben alles was noch zu gebrauchen ist.“ Mir laufen eiskalte Schauer über den Rücken, als André Herzberg trocken, unterkühlt und doch so erschreckend real die Konzentrationslager beschreibt. Jeder Satz klingt, als spräche man nicht über Menschen, sondern über unbrauchbare Dinge, die man einfach entsorgt. An dieser Stelle fesselt mich das Buch, es nimmt mich geradezu ein. Ich muss an das Konzentrationslager von Dachau denken, dass ich vor einigen Jahren besucht habe.

Im Eiltempo durch das Jahrhundert
André Herzberg führt seine Leser mit einer deutsch-jüdischen Familiengeschichte temporeich durch mehr als ein Jahrhundert deutscher Geschichte – drei Generationen, zwei Weltkriege, zwei Diktaturen. Der Bogen wird gespannt von den Schiffen der Cunard Reederei auf ihrem Weg nach New York, etwa um 1910 bis 1912, bis zum Fall der Mauer. Wie schwergewichtig die Ereignisse auch sein mögen, André Herzberg erzählt sie unterkühlt, fast schon nebenbei, als sei er nur ein neutraler Beobachter. Dabei haben die Geschehnisse während der NS-Zeit wesentlich stärker auf mich gewirkt als die neuere deutsche Geschichte.

Die Erzählkunst von André Herzberg kann darauf verzichten, Jahreszahlen oder Daten aufzulisten. Mit nur wenigen Andeutungen weiß der Leser, welche politischen Ereignisse bevorstehen und an welchen Orten er sich befindet. Ich habe beim Lesen von meinen vielen Reisen profitiert. Ich kenne Israel, Kapstadt und das jüdische Viertel von New York. So bekam der Text für mich noch einen besonderen Reiz.

Mein Fazit
Ein temporeiches Buch, das nach den ersten Kapiteln an Fahrt aufnimmt. Ich empfehle es weiter. Einziges Manko: Ich hätte mir etwas mehr „Auseinandersetzung“ zwischen Juden und Deutschen gewünscht. Manche Ereignisse werden zu schnell erzählt und enden zu abrupt.

André Herzberg, Alle Nähe fern
Ullstein Hardcover, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Alle-Naehe-fern-9783550080562
Link zum Autor: www.andreherzberg.de
Autorin der Rezension: Carina Tietz
www.carina-tietz.de/