Rezension: Marina Gärtner, SPACES. Freie Kunsträume in Deutschland

Nach wie vor ist der Begriff Alternativkultur mit einem negativen Beigeschmack behaftet. Ein Grund dürfte darin liegen, dass sich die freie Kulturszene in der Vergangenheit meist an ein jüngeres Publikum richtete und oft aus dem Umfeld der Punks oder Hausbesetzer-Szene stammte. Dass sich in den vergangenen Jahren hier ein massiver Wandel vollzogen hat, beweist die Fotografin Marina Gärtner mit dem vorliegenden Buch.

© Marina Gärtner / Deutscher Kunstverlag
© Marina Gärtner / Deutscher Kunstverlag

Das bietet Spaces
„SPACES – Freie Kunsträume in Deutschland“ ist ein reiner Städteguide, in dem ausschließlich die freien Kunsträume der Republik dargestellt werden. Die Locations liegen mal in einem Keller, mal in einer privaten Wohnung oder haben in einem leerstehenden Gebäude ein Refugium gefunden. Marina Gärtner stellt diese freien Kunsträume kurz vor und markiert sie auf einem Stadtplan, sodass interessierte Besucher leicht den Weg finden.

Eine hervorragende Idee mit einem großen Aber
Grundsätzlich ist die Idee, freie Kunsträume zu präsentieren, hervorragend. Schließlich werden diese von offiziellen Stellen, Feuilletons und herkömmlichen Stadtführern meist nicht berücksichtigt, weil viele Locations nur Insidern bekannt sind.

© Marina Gärtner / Deutscher Kunstverlag
© Marina Gärtner / Deutscher Kunstverlag

Allerdings ist Marina Gärtner mit ihrem Vorhaben etwas überambitioniert ans Werk gegangen. Denn obwohl dieser Städteführer nahezu 400 Seiten umfasst, kann er nur einen groben Überblick über die freie Kunstszene in Deutschland bieten. So sind das Ruhrgebiet und Berlin aufgrund des großen Angebotes deutlich überrepräsentiert, während etwa aus ganz Bayern lediglich vier Locations in drei Städten vorgestellt werden. Alte Kulturstädte wie Regensburg, Passau oder Landsberg am Lech, wo sich eine freie Kunstszene schon seit den ausgehenden 1970ern etabliert hat, fehlen komplett.

Raum.Weisz in Leipzig. © Katarína Dubovská / Raum.Weisz, Leipzig“
Raum.Weisz in Leipzig. © Katarína Dubovská / Raum.Weisz, Leipzig

Eine bessere Lösung?
Für eine Folgeauflage von SPACES sollte über eine Regionalisierung des Kunstführers nachgedacht werden. In der aktuellen Form kann er lediglich die grobe Vielfalt des kulturellen Lebens und des Engagements in Deutschland wiedergeben. Dabei müssen fast zwangsläufig auch hochkarätige Einrichtungen auf der Strecke bleiben, weil der Führer ansonsten zu unhandlich und wohl auch in der Herstellung zu teuer wäre. In der vorliegenden Form ist SPACES in erster Linie also nur für Reisende, die ganz Deutschland bereisen wollen oder für Kulturschaffende auf der Suche nach Locations interessant. Der klassische Städtereisende jedoch möchte sich möglichst umfassend über das eigentliche Ziel und die nähere Umgebung informieren, während ihn der Rest der Republik eher nicht interessiert.

Mein Fazit
Inhaltlich lässt SPACES keine Wünsche offen. Marina Gärtner beschreibt die freien Kunsträume Deutschlands kurz und informativ, sodass der Leser einen guten Überblick bekommt und manche Anregung erhält. Allerdings erscheint das Konzept verbesserungswürdig, weil hier zahlreiche nennenswerte Kunsträume nicht berücksichtigt werden.

Marina Gärtner, SPACES. Freie Kunsträume in Deutschland
Deutscher Kunstverlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Spaces-9783422073104
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Tom Drury, Das stille Land

Ein junger Mann, dessen Träume allmählich von der Realität begraben werden und eine geheimnisvolle Schöne – das ist der Stoff, aus dem gute Geschichten für Freunde des Unheimlichen gestrickt werden. Das beweist Tom Drury mit seinem Roman „Das stille Land“, der passagenweise an die schaurig-düstere Atmosphäre der Serie Twin Peaks erinnert.

Quelle: www.klett-cotta.de
Quelle: www.klett-cotta.de

Wenn Träume begraben werden
Protagonist in „Das stille Land“ ist Pierre Hunter, ein junger Mann, der eigentlich der Provinz des Mittleren Westens entfliehen möchte. Doch er meidet die Stadt und schlägt sich lieber im Grouse County als Barkeeper durch. Was er nicht weiß: Die bildhübsche Stella Rosmarin beobachtet ihn schon seit geraumer Zeit und unterhält sich sogar mit einem mysteriösen Fremden über ihn.

Als er eines Tages beim Eislaufen einbricht, rettet Stella Rosmarin den jungen Mann, woraufhin sie sich anfreunden. Tom Drury erfährt in den folgenden Wochen von ihrem Geheimnis: Bei Stella Rosmarin handelt es sich um eine ganz andere Person. Diese wurde ermordet und konnte ihre Seele in diesen Körper hinüber retten. Nun wird Pierre Hunter zum Werkzeug ihrer Rache, bevor dem Paar in einem anderen Leben eine gemeinsame Zukunft beschert ist.

Die Charaktere treiben die Geschichte voran
Im Aufbau der Geschichte erweist sich Tom Drury, wie auch schon in früheren Werken, als Meister der Sprache: Er entwickelt die Geschichte langsam anhand seiner Charaktere und scheinbar alltäglicher Begebenheiten. Erst gegen Ende, als das Rätsel um die geheimnisvolle Frau schon gelöst scheint, setzt Drury auf dezente Action-Elemente. Fast entsteht der Eindruck, der Autor habe eine bewusst langsame Erzählweise gewählt, um die Trostlosigkeit eines Ortes im Mittleren Westen auch sprachlich zu unterstreichen.

Die deutsche Übersetzung weist allerdings einige Schwächen auf, wodurch der für Drury typische Humor etwas untergeht. Der Qualität der Geschichte tut das jedoch keinen Abbruch. Der Leser kann sich insbesondere gut in Pierre Hunter hineinversetzen, der sich – wie so oft im richtigen Leben – mit der Tatsache arrangiert hat, dass er seine Träume aus Jugendtagen wohl nie wird verwirklichen können.

Mein Fazit
Das stille Land ist kein herausragendes Stück US-amerikanischer Literatur, wohl aber guter und unterhaltsamer Lesestoff für Freunde des Geheimnisvollen und Übersinnlichen. Wohltuend positiv fällt auf, dass der Autor auf übertriebene Effekthascherei verzichtet und sich die übersinnlichen Elemente fast logisch in das Leben eines ganz normalen jungen Mannes einfügen.

Tom Drury, Das stille Land
Klett-Cotta, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-stille-Land-9783608980226
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Zum Welttag des Buches: Ein Büchergutschein für meine Leser

Quelle: www.boersenblatt.net
Quelle: www.boersenblatt.net

Heute, am 23. April, ist der Welttag des Buches. Erstmals ausgerufen von der UNESCO im Jahr 1995, erinnert der Tag an einen Brauch in Katalonien, wo man zum Namenstag des Schutzheiligen St. Georg Rosen und Bücher verschenkt. Außerdem ist der 23. April der Todestag von William Shakespeare und Miguel de Cervantes.

20 Jahre „Welttag des Buches“ – da beschenke ich meine Leser mit einem Büchergutschein im Wert von 20 Euro, einlösbar in 2.500 Buchhandlungen in Deutschland.

Schreibt mir: Welches Buch würdet ihr euch für 20 Euro kaufen und verschlingen? Oder vielleicht ein E-Book? Oder ein Hörbuch? Ich bin gespannt!

Gewertet werden alle Kommentare auf dem Blog bis 23. April 2015, 23:59:59.

Notwendiger Hinweis: Das Los entscheidet. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Rezension: Heike Guderjahn (Hrsg.), April, Sturm und andere Turbulenzen. Geschichten von der Liebe

Quelle: www.buchergilde.de
Quelle: www.buchergilde.de

Weg mit den Pseudo-Sado-Maso-Schinken. „Fifty Shades of Grey“ ist eine Lachnummer im Vergleich zu diesen Geschichten. Sie stammen aus Zeiten, als Frau noch etwas zu befürchten hatte, wenn sie sich erdreistete, über Herzschmerz zu schreiben. So zum Beispiel Kate Chopin: Die Amerikanerin legte im Jahr 1899 mit „The Awakening“ einen wahrlich skandalöses Buch vor, in welchem sie ihrer Protagonistin ein Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit zustand. In der Folge des Aufruhrs, welchen sie damit in der gutbürgerlichen Gesellschaft auslöste, wurde zu ihren Lebzeiten nie wieder ein Buch von ihr verlegt.

Ihre Erzählung „Der Sturm“ ist eine kondensierte Version ihres Erstlings und wurde erst posthum veröffentlicht. Sie findet sich im wunderbaren Sammelband „April, Sturm und andere Turbulenzen“, jüngst erschienen in der Edition Büchergilde. Herausgeberin Heike Guderjahn hat hier Geschichten von der Liebe zusammen getragen, allesamt geschrieben von intellektuellen und einfühlsamen Frauen. Natalia Ginzburg ist ebenso darunter wie Sylvia Plath und Ingeborg Bachmann. Die Erzählstränge reichen von Erotik bis hin zum wahren Gräuel jeder Romanze: verblassender und erloschener Liebe.

April_vonoben-a096641cDer Herausgeberin gelingt es, Geschichten zu versammeln, die von echten Beziehungen inspiriert sind. Sie sind nicht glatt gebügelt von irgendwelchen Märchenprinz-Fantasien. Und damit entsteht ein Lesebuch für Frauen, die es gelernt haben, Herzweh auszuhalten. Die Illustrationen der Leipziger Zeichnerin Susanne Wurlitzer spiegeln auf Herrlichste die Leere wider, die entsteht, wenn eine brennende Leidenschaft abgekühlt ist. Ein besonderes Lob gilt der Gestaltung: Das Buch wird in einer Wickelbroschur hergestellt. Als besondere Herausforderung an die Druckerei kann der Leser den Umschlag zu einem Tafelbild aufklappen und aufstellen.

Ein bezaubernder Band nur für wahrhaft Erwachsene.

Heike Guderjahn (Hrsg.), April, Sturm und andere Turbulenzen. Geschichten von der Liebe
Edition Büchergilde, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/April-Sturm-und-andere-Turbulenzen-9783864060489
Autorin der Rezension: Eva-Maria Kasimir

Fotonachweis (2): büchergilde.de

Rezension: Damon Galgut, Arktischer Sommer

Der südafrikanische Autor Damon Galgut, Jahrgang 1963, wurde für zahlreiche internationale Literaturpreise nominiert und zählt zu den renommiertesten Autoren seines Landes.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Die Handlung
Der junge Engländer Edward Morgan Forster fühlt sich im viktorianischen England der Jahrhundertwende eingezwängt in starre Konventionen und prüde Borniertheit. Er fühlt seit frühester Jugend, dass er nur Menschen des eigenen Geschlechts sexuell anziehend findet, braucht jedoch lange Zeit, um sich dies auch einzugestehen. Nach dem frühen Tod seines Vaters lebt er bei seiner Mutter, die er verehrt und liebt, deren einengende Bevormundung ihm aber auch zunehmend stört.

Da erscheint die Aussicht, ein halbes Jahr mit Freunden durch die englische Kolonie Indien zu reisen, sehr attraktiv. Auf der Überfahrt lernt er einen Engländer kennen, der in Indien als Soldat stationiert ist, und der ihm in Gesprächen, die nicht über Andeutungen hinaus das Thema Homosexualität berühren, das sinnliche Indien in den verführerischsten Farben schildert.

Schon während seines Studiums in England hatte Forster Freundschaft zu dem Inder Masood geschlossen, den er nun nach Jahren in seiner Heimat besuchen will. Von ihm erhofft er sich die Erfüllung seiner sexuellen Träume. Doch das begehrte Sehnsuchtsobjekt will nicht bis zum Äußersten gehen, und Forster erlebt etwas Innigeres als profanes Ausleben seiner Begierden. Allerdings hat sich der Freund verändert und der Aufenthalt gerät letztlich zum Desaster.

Wieder im kühlen England, wo er einige Männer kennenlernt, denen seine Präferenzen nicht fremd sind, erreicht Forster mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges der Ruf nach Ägypten, wo er sich als Mitarbeiter des Roten Kreuzes nützlich macht, indem er verletzte Soldaten im Hospital besucht und befragt. Dort in Alexandria, das so gar nichts von der erhofften orientalischen Leichtigkeit für ihn bereithält, lernt er den jungen Straßenbahnschaffner Mohammed kennen und lieben. Doch auch diese Liebe ist letztlich nicht von Erfüllung gekrönt, da Mohammed heiratet und später schwer erkrankt und stirbt.

Homosexualität und der Kampf um den perfekten Roman
Der Autor E. M. Forster (1879 – 1970) ist vielleicht manchem Leser bekannt. ich kannte ihn zuvor nicht. Und auch das beherrschende Thema – seine Homosexualität und der Umgang damit – ist nichts, was mich brennend interessiert. Ebenso fand ich die sehr ausführlich geschilderten Kämpfe des Protagonisten um die Entstehung seines Indienromans oder anderer Werke, ebenso wie die Schilderung seines Indien-Aufenthaltes, oftmals langatmig und ebenso wie seine sexuellen Beschwernisse voll mit Redundanzen und Abschweifungen.

Mein Fazit
Empfehlen kann ich den Roman nur denjenigen, die sich explizit für die englische Kolonialherrschaft in Indien und Ägypten, oder für das Thema Homosexualität in der Zeit um den Ersten Weltkrieg interessieren. Kein großer Publikumsroman.

Damon Galgut, Arktischer Sommer
Wilhelm Goldmann Verlag, München 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Arktischer-Sommer-9783442547470
Autorin der Rezension: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de

Rezension: Julia Jessen, Alles wird hell

Quelle: www.kunstmann.de
Quelle: www.kunstmann.de

Die Handlung
Ist es ein Liebesroman, ein Lebensroman, ein Familienroman? „Alles wird hell“ von Julia Jessen ist nichts von alledem und doch von allem ein bisschen. In drei großen Teilen beschreibt Jessen das Leben von Oda. Zuerst das kleine Mädchen, das zu einem Teenager wird und gegen die Familie und Lehrer rebelliert, dann die Frau, die ihren Lebenstraum verwirklich hat, aber in ihrer Beziehung und mit ihrem Leben trotzdem nicht wirklich zufrieden ist. Und schließlich die alte Frau, die ihrem Mann beim Sterben hilft und dann selber stirbt. Doch der Roman beschreibt nicht nur Odas Leben, sondern auch das ihrer eigenwilligen Familie, in der meist die Frauen den Ton angeben.

Abrupte Übergänge
Das Buch beginnt mit dem Ende. Als Leserin sehe ich Oda sterben, nehme Teil an ihren Gedanken und Gefühlen. Erst dann beginnt das Buch mit einem Erlebnis Odas als kleines Mädchen. Das Buch wird also in einer Rückblende erzählt. Gleichzeitig ist diese Aufteilung auch eine gewisse Schwäche, denn beim Übergang von einem Teil zum anderen ist mir nicht immer sofort klar, wo die Handlung plötzlich wieder einsetzt. Besonders im Mittelteil fällt mir dieser Bruch auf und es ist schwer, wieder in den Lesefluss zu finden.

Schwieriger Mittelteil
Überhaupt war der Mittelteil für mich der herausforderndste Teil des Buches, insbesondere die Beschreibung der Schwierigkeiten, die Oda mit ihrem Mann hat, weil sie noch ein Kind will, er aber nicht. Odas Gefühlschaos und die Konsequenzen daraus beschreibt Julia Jessen sehr genau. Das ist einerseits spannend, führt andererseits aber auch dazu, dass mir die Hauptfigur zunehmend unsympathisch wird, auch wenn ich manche Dinge gut nachvollziehen kann. Manchmal möchte ich als Leserin einfach nur ins Buch springen und diese Oda kräftig durchschütteln, damit sie wieder zu Verstand kommt und endlich ihr Leben ohne Selbstmitleid auf die Reihe bringt.

Mein Fazit: Lesenswert
Trotz dieser Herausforderung halte ich das Buch von Julia Jessen für sehr lesenswert. Es ist ein spannend und zieht mich in seinen Bann. Und ich merke nicht einmal, dass ich mitten drin bin in der chaotischen, unberechenbaren Gefühlswelt dieser Oda, die mich so schnell nicht mehr loslässt.

Julia Jessen, Alles wird hell
Verlag Antje Kunstmann, 2015
Julia Jessen liest: https://www.youtube.com/watch?v=QfCwQ42GRuM
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Alles-wird-hell-9783956140242
Autorin der Rezension: Yvonne Giebels

Rezension: Paul Pickering, Die Frau des Leoparden

Der britische Bestseller-Autor Paul Pickering liefert in seinem fünften Roman alles, was man sich von einem unterhaltsamen Buch wünschen kann: Spannung, Liebe, Verrat, Gewalt, traumhafte Bilder und Absurdität, die zur Komik gereicht – und zur Verwirrung.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Ein Mann, eine Frau, ein Klavier und der Kongo
Im Kongo herrscht Bürgerkrieg. Nicht ganz unschuldig daran ist Lola, die „kongolesische Helena von Troja“, Frau des Generalmajors Xavier – auch genannt Chui, „der Leopard“ – und Geliebte von dessem Bruder. Mit ihren gerade mal 17 Jahren hat sie jedoch beide Beziehungen bereits hinter sich gelassen und verliebt sich nun in den Hauptcharakter des Buches: einen britischen Pianisten namens Smiles, welcher ihr freilich auch vom ersten Moment an verfällt. Dabei kam Smiles eigentlich nur in den Kongo, um dort seinem alten Freund und Lehrer Lyman Andrew zu begegnen und gemeinsam mit ihm ein Friedenskonzert zu geben. Dies wird dadurch erschwert, dass beide Pianisten für tot erklärt werden – sie seien einem Bombenanschlag im Konzertsaal zum Opfer gefallen – und sich Lyman Andrew im Dschungel versteckt. Kurzerhand wird der Plan gefasst, das Konzert dann eben im Urwald zu geben und im Radio zu übertragen. Man muss ja nur Smiles flussaufwärts kuttern – ihn und das Klavier: einen Konzertflügel aus dem 18. Jahrhundert. Mit an Bord ist natürlich auch Lola und während sie und Smiles auf den diversen Zwischenstopps der Reise turteln, heiraten und immer wieder flüchten (vor wem genau, ist nie ganz klar), liest Lolas kleiner Bruder Smiles‘ Briefe über seine Internatszeit in England und seine damalige Freundschaft mit Lyman Andrew…

Zwei Geschichten, eine Moral
Obwohl ich bis zum Schluss des Buches nicht wirklich schlau daraus werde, wer hier eigentlich gegen wen kämpft, genieße ich diese abenteuerliche und wundervoll bildhafte Reise durch den Kongo – man merkt, dass Pickering hier als Augenzeuge berichtet. Ich fiebere mit den beiden Protagonisten Lola und Smiles, die sich ganz offensichtlich in höchster Gefahr befinden, wenngleich auch hier nicht ganz klar ist, warum und wovon diese Gefahr ausgeht. Vieles in Pickerings Roman schert sich nicht um ein „Warum“ und ist dennoch nicht weniger real. Ich begegne menschlichen Abgründen und unfassbaren Gewaltakten, sowohl im Reich der Mosquitos und Krokodile, als auch an Smiles‘ noblem Freimaurer-Internat in England. Was sich dort abspielt bildet eine eigene Geschichte, die den Ereignissen im Kongo an Heftigkeit in nichts nachsteht. Die Moralität der Romanfiguren lässt sich nicht so einfach bestimmen wie deren Hautfarbe. Nicht einmal beim Hauptakteur Smiles, der neben Lola vor allem zwei Dinge liebt: Das Klavier und die Quitte seiner Mutter.

Mein Fazit
Pickering hat mir mit dieser turbulenten und abstrusen Erzählung mehr als ein Stirnrunzeln entlockt. Auch den Prolog verstand ich erst, als ich ihn als Epilog las. Kurzum: Das Buch war für mich ein Abenteuer – in jeder Hinsicht.

Paul Pickering, Die Frau des Leoparden
Bertelsmann, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Frau-des-Leoparden-9783570102107
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Christina Baker Kline, Der Zug der Waisen

Christina Baker Kline wuchs in England und in den USA auf. Sie unterrichtete Literatur und Kreatives Schreiben und wurde als Buchautorin und Herausgeberin von Anthologien bekannt. Ihr Roman „Der Zug der Waisen“ war in den USA ein großer Erfolg und führte viele Monate die Charts der New York Times an.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Eine ganz besondere Freundschaft
Im Mittelpunkt des Romans stehen zwei Frauen, die auf den ersten Blick nicht gegensätzlicher sein könnten: Die 17jährige Halbwaise Molly hat schon ein turbulentes Leben in verschiedenen Pflegefamilien hinter sich und ist so auf die Gothik-Schiene geraten. Auch in ihrer neuen Pflegefamilie läuft es nicht gut. Eines Tages gerät sie in Schwierigkeiten und wird zu Sozialstunden verurteilt, die sie dank ihres Freundes bei der 91jährigen Vivian ableisten kann. Sie soll der alten Dame helfen, ihren Dachboden zu entrümpeln. Sind beide zunächst nicht sehr angetan von der Aufgabe, wird eines doch schnell klar: Entrümpelt werden soll gar nichts. Vielmehr scheint es so, als ob Vivian all ihr Habe noch einmal – ein letztes Mal? – genau sehen möchte. Beim Betrachten der „Schätze“ erinnert sich Vivian an die nicht immer leichten Stationen ihres Lebens: Langsam und vorsichtig wird aus dem Erinnern ein Erzählen und ein Austausch. Begegnen sich Molly und Vivian zunächst voller Vorsicht, entwickelt sich doch langsam aber sicher eine wundervolle Freundschaft zwischen ihnen, bei der sie sich einander öffnen und zu vertrauen lernen. Denn eines ist klar: So verschieden, wie es auf den ersten Blick scheint, sind die beiden Frauen dann doch nicht. Sie sind einander eher viel ähnlicher, als man je zu vermuten gewagt hätte.

Ein vergessenes Kapitel amerikanischer Geschichte wird neu geschrieben
Denn beide Frauen teilen eine Gemeinsamkeit: Eine sehr harte Vergangenheit, die sie nachhaltig prägen sollte. Molly verlor den Vater und die Mutter war nicht mehr in der Lage, sie zu versorgen. Auch Vivian wurde nach einem verheerenden Brand zur Waise. Gemeinsam mit vielen anderen Kindern wurde sie 1929 in einen so genannten „Orphan Train“ verfrachtet und in den Mittleren Westen geschickt, wo sie auf einer Farm ein neues Zuhause finden sollte. Ein liebevolles Heim erwartete dabei aber nur die wenigsten Kinder, und auch Vivian hatte schwere Bewährungsproben zu erdulden, bevor ihr Leben in geordneten Bahnen verlief.

Mein Fazit
Christina Baker Kline greift mit dieser Thematik ein bisher kaum bekanntes Kapitel der US-amerikanischen Geschichte auf und vermischt es mit der Geschichte einer ganz besonderen Freundschaft. Präzise recherchiert bringt sie die Fakten über die „Orphan Trains“, die zwischen 1854 und 1929 über 200.000 Waisen in den Mittleren Westen brachten, in ihr Buch ein und überzeugt dabei mit einer eingängigen Sprache und einem gefühlvollen Stil. Präzise Beschreibungen, die neben der Recherche auch auf Zeitzeugenberichten basieren, geben der ernsten Thematik die nötige Tiefe. Die tiefgründige Erzählung lebt von viel Gefühl, einer großzügigen Prise Humor und großem schriftstellerischem Talent.

Christina Baker Kline, Der Zug der Waisen
Goldmann, 2014
Trailer zum Buch: https://www.youtube.com/watch?v=NC2zHfUiOvQ
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Zug-der-Waisen-9783442313839
Autorin der Rezension: Julia Groß

Rezension: Erik Lindner, Auf der Suche nach dem Nudossi-Äquator

Erik Lindner, geboren 1964, ist promovierter Historiker und beschäftigt sich besonders mit deutsch-jüdischer Geschichte. Er ist als Geschäftsführer der Axel-Springer-Stiftung tätig.

Quelle: www.murmann-verlag.de
Quelle: www.murmann-verlag.de

Als ehemalige DDR-Bürgerin waren mir vor Lektüre dieses Buches nicht nur einige Marken gut im Gedächtnis geblieben, sondern ich verwende sie auch bewusst weiter, sofern sie hier, im Südwesten Deutschlands, in den Regalen der Supermärkte zu finden sind. So spüle ich mein Geschirr aus Prinzip mit fit, creme meine Haut mit Florena, bestreiche alles, was sich dazu eignet, mit Bautz‘ner Senf, trinke, wenn ich etwas zu feiern habe, nur Rotkäppchen Sekt und esse grundsätzlich keine anderen Gurken als die aus dem Spreewald.

Die Überlebenden der Wende
Das Buch, in dem die Geschichte von ca. 100 Marken und Produkten aus den Bereichen Lebensmittel, Körperpflege, Technisches und Schönes nachgezeichnet wird, hat mir nun gezeigt, dass noch viele andere Marken der ehemaligen DDR überlebt haben, wenn auch nicht immer unter dem Dach der ehemaligen Gründer der Marke und leider nicht immer am alten Standort. In dieser Menge war das für mich eine echte Überraschung.

Die Nachwendezeiten sind mir noch gut in Erinnerung, als vor jedem Kaff auf der grünen Wiese ein Zelt aufgestellt wurde, in dem von der holländischen Gurke bis zum Waschmittel alles verkauft wurde – Hauptsache, es kam aus dem Westen. Und die endlich konsummündigen Bürger kauften, was das Portmonee hergab. Irgendwann jedoch, als leider viele der DDR-Betriebe ihre Produktion mangels Nachfrage eingestellt hatten, stellten sie fest, dass der selbst gezogene Salat aus dem Garten wesentlich besser schmeckte als das Grünzeug aus Holland und dass Spee genauso sauber wusch wie Persil, vom Preis ganz abgesehen.

Im Buch wird für viele Produkte dieser Weg von der einstigen DDR-Marke, die mangels Alternativen eine Monopolstellung hatte, über das zeitweise Verschwinden bis hin zur glanzvollen Wiederauferstehung nachgezeichnet. Auch ehemalige Betriebsangehörige oder mutige West-Investoren werden mit ihrer Leistung bei der Erhaltung eines Teils der DDR-Warenkultur gewürdigt. Ebenso bleibt nicht unerwähnt, dass es viele Glücksritter und Heuschrecken gab, die für einen schnellen Profit durchaus lebensfähige Betriebe herunterwirtschafteten und abwickelten. Auch das Handeln der Treuhand war dabei nicht immer von Weitsicht und Fairness geprägt.

Umso erfreulicher ist es, dass mittlerweile viele ehemalige DDR-Bürger wieder zu „ihren“ Marken als einem Teil ihrer Identität zurückgefunden haben. Viele Verbraucher in den alten Bundesländern kennen jetzt Produkte aus der ehemaligen DDR und haben sie schätzen gelernt. Das Potential ist sicher noch lange nicht ausgeschöpft. Und auch ich werde mich, sobald ich meinen Wohnsitz nach Leipzig verlegt habe, verstärkt auf die Suche nach „Ostprodukten“ begeben, um die Firmen, die immer noch ihren Sitz und ihre Produktionsstätten dort haben, zu unterstützen.

Mein Fazit
Ein informatives und interessantes Buch für all jene, die einmal hinter die Kulissen von Markenrecht und Produktentwicklung unter den besonderen Bedingungen der geschichtlich einmaligen „Eingliederung“ schauen wollen. Und ein Muss für jeden, der mit Halloren Kugeln, f6 oder Schwalbe schöne Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in der DDR verbindet.

Erik Lindner, Auf der Suche nach dem Nudossi-Äquator
Murmann Publishers GmbH, Hamburg 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Auf-der-Suche-nach-dem-Nudossi-quator-9783867744225
Autorin der Rezension: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de

Rezension: Roger Cockrell (Hrsg.), Michail Bulgakow – Ich bin zum Schweigen verdammt

Quelle: www.randomhouse.de
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Autor und Werk
Michail Afanassjewitsch Bulgakow wurde am 15. Mai 1891 in Kiew geboren und zählt zu den bedeutendsten Satirikern der russischen Literatur. Nach dem Abitur absolvierte er zunächst erfolgreich ein Medizinstudium, bevor er im Oktober 1921 nach Moskau ging und dort zu schreiben begann. An dieser Stelle setzt das Werk „Ich bin zum Schweigen verdammt“ an. Es umfasst die Briefe und einige Tagebucheintragungen Bulgakows aus den Jahren 1921 bis 1940 und wurde im März 2015 zu seinem 75. Todestag veröffentlicht.

Schreiben unter schwersten Bedingungen – Opfer der Zensur
Ließen sich die ersten Moskauer Jahre noch gut an (Bulgakow schrieb und publizierte in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften und veröffentlichte auch einige Prosastücke), wendete sich das Blatt im Jahr 1929 gravierend. Bei einer Hausdurchsuchung wurden Bulgakows persönliche Tagebücher sowie seine satirische Erzählung „Hundeherz“ beschlagnahmt und erste Verbote seiner Bücher und Theaterstücke auf den Weg gebracht.

Ab 1930 wurden die Werke Bulgakows endgültig nicht mehr veröffentlicht und seine Stücke verschwanden von den Spielplänen des Theaters. Eine unwürdige Existenz und ein Kampf ums Überleben begannen für den Mann, dessen Leben allein die Schriftstellerei war. In seinen Briefen beklagt er dies bei Freunden und Bekannten, sucht nach Rat und bittet um Hilfe – auch bei staatlichen Instanzen. Solle es keine Arbeit für ihn geben, dann wolle er wenigstens kurz das Land verlassen, um neue Kraft zu tanken oder Aufträge zu finden.

Gefangen im eigenen Land
Doch auch die Ausreise, und sei sie auch nur zu Urlaubszwecken, wurde Bulgakow verwehrt. Er war somit gezwungen, in Moskau zu bleiben, bei unveränderter Arbeitssituation und immer schlechterer Gesundheit. Bulgakow arbeitete als Dramaturg und schrieb, immer mit dem Wissen, nie veröffentlicht zu werden oder erneut dem Verriss und der Zensur zum Opfer zu fallen. Der Kampf gegen die Windmühlen setzte sich unerbittlich fort und sollte bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1940 nicht enden.

Politik und Schriftstellerei
Neben seinen Problemen als Schriftsteller wird in seinen Briefen und Tagebüchern auch das große Interesse am Zeitgeschehen deutlich. So beschäftigt er sich gerade in den ersten Jahren stark mit den politischen Geschehnissen in der UdSSR und der internationalen Situation außerhalb des eigenen Landes, die er mit scharfem Blick verfolgt.

Mein Fazit
Für mich sind Briefromane und Tagebuchaufzeichnungen immer ein besonderer Lesegenuss, schildern sie die Geschehnisse doch immer aus einer authentischen und persönlichen Sicht. „Ich bin zum Schweigen verdammt“ ist eine klare Buchempfehlung für jeden Leser, der biografische Lektüre zu schätzen weiß und dabei noch ein großes Interesse für den Menschen Bulgakow, Russland, das Theater und die geschichtlichen und politischen Ereignisse der Zeit hat. Ergänzt werden die Briefe und Aufzeichnungen durch einen ausführlichen biographischen und bibliographischen Anhang, sodass das Buch in seiner Gesamtheit zu einem unverzichtbaren Zeugnis des Lebens Bulgakows wird.

Roger Cockrell (Hrsg.), Michail Bulgakow – Ich bin zum Schweigen verdammt
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Ich-bin-zum-Schweigen-verdammt-9783630874661
Autorin der Rezension: Julia Groß
https://zimttraeumereien.wordpress.com/